Thomas Helm

Ost-wärts


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beworben?«, entgegnete er daraufhin recht lapidar. Womit für ihn dieses Thema abgeschlossen schien.

      Kappner versuchte jedoch, fair zu bleiben. Nach dem »Ordnungsgong«, dem er Kretzschinski am Mittag wegen des Bieres verpasst hatte, kam der Techniker bis Schichtende offensichtlich ohne Alkohol aus.

      Gegenwärtig hatte er aber von neuem zugelangt. Wie es seine stockende Sprechweise unüberhörbar verriet. »Nimmst du auch ein’ Nordhäuser, – Chef?«, fragte Kretzschinski im gewohnt nuscheligen Tonfall, der seine Herkunft aus der Messestadt nicht verhehlte.

      Denn dort wuchs er auf. Er schaffte den Berufsabschluss als Koch und wechselte danach aus wahrlich nicht nachvollziehbaren Gründen in die FDJ-Kreisleitung.

      Das alles wusste Kappner aus der Personalakte des Technikers.

      Als er auf Kretzschinskis Frage wegen des Schnäpschens zustimmend nickte, gab ihm Lisa einen Klaps auf den Rücken.

      »Theo! Du bist heute der »Leiter vom Dienst«. Schon vergessen? Darfst’ nichts trinken!«

      Kappner zuckte nur mit den Schultern, zog dann seine Frau an sich heran. »Nur einen zum Aufwärmen, Lisamaus!«, säuselte er ihr ins Ohr. Daraufhin nahm auch er eines der Gläser und stieß er mit allen am Tisch an.

      Nur seine Frau trank, wie immer und vorbildlich, Mineralwasser.

      Die Mädels aus der Ökonomie und der hoch aufgeschossene Einkäufer der aus Schwerin stammte schauten sich an. Dann standen sie entschlossen auf und verabschiedeten sich in Richtung Faschingsball. Sie wollten wohl nicht mehr darauf warten, dass ihnen ihr Chef eventuell etwas über den Selbstmord erzählen würde.

      Dichter Zigarettenrauch schwebte jetzt auch unter der niedrigen Kunststoffdecke der geräumigen Raumzellen, aus denen der Speisesaal zusammengefügt war.

      Die Abendbrotzeit dauerte zwar noch an. Aber einige der Tischgäste blieben nach dem Essen gleich sitzen. Sie genehmigten sich, nachdem sie ein Bier vom »Brett« geholt hatten, eine Zigarette danach.

      Doch hier, im Speiseraum, gab es keine Abluftanlage.

      Daher deutete Kappner auf eines der Fenster. Woraufhin es der Wareneinkäufer oben aufklappte, bevor er den beiden Mädchen eilig folgte.

      Auch Kretzschinski hob grüßend die Hand. Er schnappte sich das Tablett mit den leeren Schnapsgläsern und auch den vollen Aschbecher. »Ich geh’ dann mal kurz – «, murmelte er, wobei er zur Tür hin deutete. Mit unsicheren Schritten verschwand er daraufhin in Richtung Faschingsfeier.

      Kappner schaute ihm hinterher, bis der Leipziger sich durch die Tür getrollt hatte.

      »Ist irgendwas vorgefallen, mit dem – Sachsen?«, fragte Lisa.

      Ihr Mann winkte kopfschüttelnd ab, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen. Der Sachse klingt gut, dachte er. Denn Lisa stammte im Gegensatz zu ihm aus Thüringen. Aus der Dichterstadt. Worauf sie gelegentlich nachdrücklich hinwies.

      Er selbst wurde an einem eiskalten Januartag des Jahres Achtundvierzig in einer sächsischen Kreisstadt geboren.

      Daher erfüllte es ihn immer mit Genugtuung, dass sich hier an der Trasse so viele Sachsen im Einsatz befanden. Auch von seinen Köchen, Fleischern und Bäckern stammten einige aus dem Gebiet um Dresden bis hoch zum Vogtland.

      Er selbst machte aus seiner Herkunft nie ein Hehl. Auch wenn er seit sieben Jahren nicht mehr in »Elbflorenz«, sondern in Berlin lebte. Davon bereits zwei gemeinsam mit Lisa seiner zweiten Frau.

      Diese hob soeben theatralisch die Hände und schaute dabei ihren Mann mit einem vorwurfsvollen Blick an. »Theo träume nicht! Sag, merkst du es auch? Keiner spielt mehr mit uns Oldies. Ei, verdammt! Ich komme mir so schrecklich alt vor!« Sie zog einen Flunsch, um sofort in lautes Lachen auszubrechen. Dann nahm sie ihren Mann in die Arme und küsste ihn herzhaft.

      Kappner griente und machte sich frei. Er brannte für beide jeweils eine Zigarette an, reichte eine davon seiner Frau. Dann öffnete er für sich eine frische Flasche vom beliebten »Braustolz-Pils«.

      Lisa hingegen nahm einen Schluck vom sowjetischen Mineralwasser. Das jedoch schmeckte, obwohl sie es aus ihrem Glas und nicht aus der Flasche trank, wie immer: muffig und – nach Rost. Angewidert verzog sie das Gesicht.

      Kappner hob mit einer resignierenden Geste die Schultern. »Tut mir leid, dass du diese Brühe trinken musst«, sagte er und legte ihr die Hand besänftigend auf den Arm. »Aber du weißt ja, wie ich dazu stehe.«

      Sie winkte nur ab. Auch sie vertrat den Standpunkt ihres Mannes in Bezug auf dieses leidige Thema. Denn mit welchen Worten formulierte Theo stets seine Kritik?

      »Furz und Feuerstein wird hektotonnenweise aus der DDR hierher gekarrt!«, wiederholte er sich gern. »Von der Lümmeltüte und den Nudeln aus Riesa. Vom Trassenrohr bis zur Einbauküche für den Wohnungsbau rollt alles über fast fünftausend Kilometer in den Ural. Nur, um es hier zu verkaufen, zu verkochen, irgendwo zu verbuddeln oder einzubauen. Aber Mineralwasser dürfen wir von daheim nicht hierher bringen! Und das nur, weil irgendein Großkopfete bereits vor Anbeginn aller Trassen eine epochale Erkenntnis hatte. Nämlich, dass der Transport von Mineralwasser aus DDR–Produktion auf die jeweiligen Standorte angeblich zu teuer ist! Darum kaufen wir es eben hier in der SU. Egal, wie die Brühe schmeckt.«

      Mit schaumgebremstem Grimm langte Kappner nach seinem Bier. Und während er über seine ureigene Philosophie zum Thema Mineralwasser noch ein bisschen nachdachte, wanderte sein Blick durch den inzwischen fast leer gewordenen Speisesaal. Dabei bemerkte er Justus Faber, der gegenüber an einem der Tische saß und augenscheinlich noch zu Abend speiste.

      Kappner machte seine Frau auf den Sicherheitschef aufmerksam und wollte mit ihr, weil ihn dessen Anwesenheit daran erinnerte, über den toten Burschen von RIV sprechen.

      In diesem Augenblick jedoch entstand vorn am Eingang zum Speisesaal ein lautes Gedränge. Mehrere zumeist junge Leute in Privatbekleidung und zum Teil mit Reisegepäck beladen drängten durch die Tür in Richtung Speisenausgabe.

      »Da schau an, die Urlauber reiten endlich ein«, bemerkte Lisa und drückte ihre Zigarette im Aschbecher aus.

      Kappner blickte zwar mit einem gewissen Interesse auf die Ankommenden. Er blieb heute jedoch leidenschaftslos. Denn von seinen Leuten reiste niemand ein. Als Chef der Versorgung musste er keinen der Rückkehrer in Empfang nehmen. Er konnte bei seinem Bier sitzen bleiben.

      Aufmerksam geworden vom Lärm entdeckte er in der Meute die FDJ-Sekretärin der Baustelle, Elke Dörrbrand.

      Gemeinsam mit einem ihm unbekannten, jugendlich wirkenden Mann drängte sie in Richtung Speisenausgabe.

      Unvermittelt sprang Lisa auf. Sie eilte zur Ausgabereihe vor der Küche. Um dort zu überprüfen ob für die Rückkehrer noch genügend vom Faschingsbüfett bereitstand.

      Kappner musste unwillkürlich lächeln, als er seine Frau beobachtete. Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche und zündete sich eine weitere Zigarette an.

      Das ist eben meine Frau, dachte er. Wobei er so etwas wie heimlichen Stolz empfand. Immer pflichtbewusst aufs Ziel orientiert, konsequent und fleißig. Auch damals an der Drushba Trasse, wo sie sich kennen lernten, zeigte Lisa bereits diese herausragenden Eigenheiten.

      Und eben dort passierte es.

      Sie, die jugendliche Köchin war unverheiratet.

      Doch er, ihr Küchenchef war Genosse. Dazu verheiratet und daheim gesegnet mit zwei halbhohen Kindern!

      Ein staatlicher Leiter, der fremd ging?

      Da schienen die Probleme quasi vorprogrammiert!

      Anfangs wartete ihr übergeordneter Chef noch ab, ob es sich bei ihnen nur um ein Strohfeuer handelte. Während man aus der Parteigruppe gleich mit dem Finger deutete und auf Konsequenzen drängte.

      Doch wenig später knallte es. Als er und Lisa auch gegenüber den Kollegen aus ihrem Verhältnis kein Hehl mehr machten.

      Kappner