Thomas Helm

Ost-wärts


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verschneite Freizeitzentrum hindurch. Daraufhin schlitterte er auf der abschüssigen Kurve um das Lagerobjekt der Versorgung herum. Anschließend stapfte er nach vorn zur Einfahrt des Wohnlagers. Dort befanden sich der Schlagbaum und die Wächterbude.

      Über den knochenharten, knirschenden Schnee näherte er sich der hell erleuchtete Lagereinfahrt. Von links her aus der tief verschneiten Kläranlage hörte er ein sattes Summen. Dort liefen die Pumpen im Dauerbetrieb.

      Aus dem Schornstein vom eingehausten Heizcontainer, der das gesamte Lager mit Warmwasser und Heizung versorgte, stieg eine Dampfwolke empor. Sie verwehte als feiner Eisnebel im schwachen Wind.

      Den Lärm aus der Marienberger Halle konnte er hier vorn fast nicht hören. Denn die hohe, lange Lagerhalle wirkte wie eine Schallschutzwand.

      Er riss die Tür auf und betrat den Wächterraum.

      Die beiden diensthabenden Wachmänner schauten ihm überrascht entgegen. Einer deckte Stift und Briefpapier rasch mit einer Zeitung ab.

      Nachdem Faber die Tür hinter sich geschlossen hatte, begrüßte er die beiden und kontrollierte das Wachbuch. »Wie das?«, entfuhr es ihm, »Wie viele von den Russenmädels befinden sich heute im Lager?«

      Von einem der Wachmänner kam prompt eine Antwort. »Kannste aba sicha sein! Det war ’n glatter Stress heute Abend. Ick meene die janzen Personalien ’uffschreiben und so!«, sprudelte der pickelige Jüngling aus Berlin heraus.

      Der andere Wachmann mischte sich ein. »Es sind genau achtundfünfzig Mädels, Genosse Faber! Die ham ’se mit zwei PAS-Bussen aus der Stadt herauf gekarrt. Die gehörten aber nicht zu unserem Transport, die Busse! Drei von den Mädels konnten wir nicht reinlassen. Keiner ohne Papiere kommt rein, hast du gesagt!«

      Faber nickt zustimmend und überlegte einen kurzen Augenblick. »Ist die Miliz heute Abend schon mal hier aufgetaucht?«

      »Nee!«, entgegnete der Picklige, »Die kommt meistens erst, wenn die Disco zu Ende ist. Wollen immer das Wachbuch sehen und schreiben die Personalien von den Mädels ab.«

      Faber winkte ab. »Das ist so in Ordnung! Geht uns auch nichts an. Ansonsten alles klar?« Da es keine weiteren Vorkommnisse gab, schrieb er einen Vermerk ins Wachbuch. Daraufhin wünschte er den Jungs eine ruhige Schicht und huschte wieder in die Kälte hinaus.

      Von der Zufahrtsstraße aus stiefelte er hinüber zum Kontrollweg. Der führte längst zwischen dem Außenzaun und dem Rohrstrang der Heiztrasse entlang. Auf die ersten Meter des schmalen Weges warfen die Halogenstrahler von der Einfahrt her noch ein spärliches Licht.

      Einige der Fenster in der rückseitigen Front des Küchentraktes waren erleuchtet. Auch aus denen vom Ausschank und dem Filmvorführraum in der Marienberger Halle fiel ein schmaler Lichtschein.

      Doch schon wenige Schritte weiter herrschte tiefe Dunkelheit. Zudem drang vom Faschingslärm kaum noch etwas an Fabers Ohr. Ein kleines Stück dahinter zogen sich bereits die langen Reihen der tief verschneiten Wohnbaracken dahin.

      Faber stapfte auf dem schmalen, festgetretenen Pfad voran der geradewegs entlang der Heiztrasse führte. Aufmerksam schaute er sich dabei um.

      Die Bewohner der Wohnunterkünfte befreiten die Fenster ihrer Zimmer im Allgemeinen nur im oberen Drittel vom hohen Schnee. Zum Lüften kippte man in jedem Wohnraum nur eines der Zimmerfenster einen Spalt breit an.

      Beim Blick auf die Fenster musste Faber unwillkürlich schmunzeln, weil ihm etwas durch den Kopf ging.

      Seit dem ersten Winter, den sie hier im Ural verbracht hatten, kannte man auch den »Naturkühlschrank«. Der kam ganz ohne Strom aus.

      Bei Bedarf öffnete man für einen Moment einen der Fensterflügel. Dann steckte man die Getränkeflaschen zum Kühlen einfach in den Schnee. Denn der stand wie eine kompakte, senkrechte Wand vor der Fensteröffnung.

      Schnell das Fenster geschlossen, – die Flaschen wurden gekühlt.

      Nur blöd, wenn man es verschwitzte sie beizeiten wieder hereinzuholen. Voll des edlen aber mittlerweile gefrorenen Gerstensaftes, von »Lübzer«, »Sternburg« oder »Braustolz«, platzten sie stets zuverlässig mit einem leisen Knacken. Nur der Hochprozentige überstand diese Tortur.

      Faber schritt stramm voran. Vor jeder zweiten Barackenreihe überquerte nunmehr eine hölzerne Treppenbrücke die Rohre der Heiztrasse. Nach dem dritten Übergang blieb der Sicherheitschef unvermittelt stehen.

      Zuvor hatte er einige undefinierbare Geräusche gehört. Er wusste sie jedoch nicht zuzuordnen. Leise stieg er auf die Treppenbrücke hinauf, um sich von dort aus umzuschauen.

      Überraschend bot sich ihm ein nicht eben seltener aber immer wieder pikanter Einblick ins pralle Trassenleben.

      Das letzte Fenster dieser Wohnbaracke hatte man zur Heiztrasse hin völlig vom Schnee befreit. Oben war es aufgeklappt und innen der bunte Vorhang beiseitegeschoben. Somit bot sich Faber ein anregender Blick in eines der Zimmer. Das durch eine kleine Nachtischleuchte sanft erhellt wurde.

      Auf dem quietschenden Bett war soeben einer der Kumpels mit einer Dame zugange. Deren sowjetische Herkunft eindeutig akustisch und optisch belegt werden konnte.

      Der nackte Hintern des Burschen hob und senkte sich heftig. Das stöhnende Mädchen streckte die strammen Beine die in roten, knielangen Lackstiefeln steckten weit in die Höhe.

      Von ihren lauten Rufen auf Russisch und ihrem lustvollen Stöhnen anfeuert, gab der Junge sichtlich alles. Zumindest das, was die vergangene harte Arbeitswoche ihm an Leistungsfähigkeit noch gelassen hatte.

      Ohne den Zieleinlauf der beiden abzuwarten, stieg Faber leise von der Brücke herab, um seinen Kontrollgang fortzusetzen. Bald erreichte er die hinterste Barackenreihe, nach der sich nur noch eine weite, tief verschneite Wiese erstreckte. Die wiederum mit dem Außenzaun vom dunklen, dichten Wald getrennt wurde. Hier hatte er im vorigen Sommer einige Male einen Luchs beobachtet und ihn auch fotografiert.

      Faber stieg die letzte Treppe hinauf. Er plante jetzt, entlang der Vorderseite der Baracke zum zentralen Mittelweg des Wohnlagers zu gehen.

      Oben, auf dem Treppenpodest, blieb er unvermittelt stehen. Einige recht laute ihm aber unverständliche Worte waren an sein Ohr gedrungen.

      Der Sicherheitschef wusste natürlich, dass der Genosse Knäbelein diese Baracke bewohnte und sich hier auch dessen Büro befand.

      Für einen Moment schoss ihm das Gespräch durch den Kopf, das er erst vor wenigen Stunden mit Zernick über den DSF-Vorsitzenden geführt hatte.

      Fabers Neugier war geweckt. Vorsichtig jedes verräterische Geräusch vermeidend stieg er auf der gegenüberliegenden Seite der Treppe eine Stufe abwärts.

      Jetzt konnte er auch sehen, woher die lauten Stimmen kamen.

      Ein weit zurückgezogener Vorhang erlaubte es ihm, in das Schlafzimmer des Genossen Knäbelein zu schauen. Das Fenster stand oben nur einen schmalen Spalt offen. Im Zimmer brannten zwei Nachttischleuchten.

      Faber erblickte den Chef der DSF. Und zu seiner Verblüffung auch den Brigadier Silvio Rehnhack. Den er vorhin gegenüber Zernick ebenfalls erwähnte.

      Beide Männer saßen sich vis-a-vis und führten offensichtlich einen hitzigen Disput. Wovon Faber leider nur einige dumpfe Wortfetzen zu erlauschen vermochte.

      Aus eigener Erfahrung wusste er, dass er selbst von dem beleuchteten Zimmer aus nicht gesehen werden konnte. Ein kurzer Blick entlang der dunklen Barackenfenster zeigte ihm zudem, dass er hier hinten und um diese Zeit völlig allein in der Gegend herumstand. In den anderen WUDs dieser Reihe befanden sich ausschließlich Büros, in denen sich derzeit niemand mehr aufhielt.

      Jetzt aber als er die Ohrenklappe seiner Schapka anhob, konnte er einzelne Wortfetzen verstehen. Sie ergaben jedoch keinen Sinn. Was sollten ihm »wir … Fehler gemacht« und »… ist eben so passiert« sowie »… ein für alle Mal«, für nachvollziehbare Zusammenhänge offenbaren?

      Faber starrte die Hände tief in die Jackentaschen gerammt und mit hochgezogenen