Thomas Helm

Ost-wärts


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Hand dagegen fiel der Hang steil ab.

      Tief unten erstreckten sich die Ausläufe von Schleusenkammern und Kraftwerk. Zwei ausgedehnte Eisflächen, die sich weit entfernt zu einer vereinten.

      Im Augenblick jedoch fuhr er an den beiden über dreihundert Meter langen Schleusenkammern vorbei. Ihre gähnende, schwarze Leere wirkte fast beängstigend.

      In ihnen schleuste man, in der eisfreien Zeit, gewaltige Langholzflöße, riesenhafte Flussschiffe, Tragflächenboote und Schlepper. Im vorigen Jahr hatte er sich solche Schleusungen gerne angeschaut, wenn er zur »Zentralen Baustelleneinrichtung« fuhr.

      Die »ZBE« wurde im Sommer Vierundachtzig als erste Baustelleneinrichtung des Standortes fertiggestellt. Nahe dem Ufer vom Auslauf des Kraftwerkes gelegen bot sie genügend Platz für ein gutes Dutzend Reparaturhallen und Lagerflächen.

      Jetzt endlich war es so weit. Bruhns hatte den ersten der Betonkonussse erreicht, die aufgereiht zu fünft entlang der linken Straßenseite standen. Er wendete den Wagen, hielt auf Höhe des Schachtes an, stieg aus und ging um das Auto herum. Dann kletterte er über den fast meterhohen Schneewall, der den Straßenrand säumte.

       Durch den verharschten Schnee, der ihm fast bis an den Stiefelrand reichte, stapfte zum ersten Schacht hinüber.

      Dort hielt er kurz inne und grinste. Einige Dutzend Meter weiter befand sich eben jene Stelle, wo er im vorigen Sommer Sina beglückte.

      Bereits im Auto hatte er sich ein Paar Arbeitshandschuhe übergezogen.

      Beim ersten Blick auf den Schachtdeckel schüttelte er verwundert den Kopf. Irgendjemand hatte sich hier bedient. Das Schloss fehlte! Der runde Deckel war zwar schwer aber zum Glück nicht festgefroren. Doch es quietschte vernehmlich, als er ihn aufklappte.

      Erschrocken hielt er inne und schaute sich beunruhigt um.

      Doch überall dunkle Stille und Menschenleere. Nur das leise Summen des Umspannwerkes weit unten am Fuße des Staudammes entging seinen Ohren nicht.

      Tiefschwarz und eisige Feuchte verströmend gähnte ihm das Loch des Schachtes entgegen.

      Geleitet vom Standlicht stapfte er zum Auto zurück, zerrte den unförmigen, schlaffen Körper heraus und warf ihn sich über die Schulter. Keuchend schleppte er ihn zum Schacht, wo er ihn sofort in die Schwärze fallen ließ.

      Mit einem dumpfen Knall schlug der tote Transportmeister nach einigen Sekunden tief unten auf.

      Rasch holte Bruhns auch den Hammer und warf ihn hinterher. Dessen klappernder Aufschlag hallte mehrfach und laut wieder.

      Daraufhin klappte er den schweren Deckel zu.

      Er lief einige spiralförmige Runden um den Schacht herum und trat auch noch eine weitere Spur zur Straße hin. So könnte man vermuten, dass hier Kinder gespielt hätten.

      Ohne sich weiter aufzuhalten sprang er ins Auto. In dem Augenblick, als er losfuhr, tauchte im Rückspiegel ein Scheinwerferlicht auf.

      Hektisch gab er Gas, woraufhin der Wagen ausbrach. Laut fluchend wegen seiner Unbeherrschtheit konnte er ihn jedoch abfangen. Vorsichtig trat er wieder aufs Gaspedal.

      Es könnte ja eine Karre von den Einheimischen sein«, murmelte er erregt vor sich hin. Aber vielleicht auch einer von uns der von unten von der ZBE kommt!

      Das Risiko, dass er von dem Fahrzeug überholt und dabei eventuell erkannt wurde, konnte er auf keinen Fall eingehen. Trotzt der Kälte im Wagen schwitzte er plötzlich am gesamten Körper.

      Doch wenig später, als er über die Stadtgrenze fuhr, sah er wie der Wagen hinter ihm plötzlich zum Werftgelände abbog.

      Erleichtert wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn.

      Unbehelligt und unerkannt kehrte er auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war. Im Wald starrte er auf die vereiste Piste, die vom wippenden Abblendlicht erhellt wurde und grübelte. Ein unbestimmtes Gefühl schwärte in ihm. Habe ich was vergessen?

      Plötzlich trat er heftig auf die Bremse. Quer zur Fahrtrichtung mit den Scheinwerfern fast im Schneewall kam der Wagen zum Stehen. Er stieß die Tür auf.

      Verdammt! Ist Arno Schimmel auch tatsächlich tot? Diese Frage war ihm soeben durch den Kopf geschossen.

      Davon habe ich mich gar nicht vergewissert! Was mache ich jetzt? Verdammt, was soll ich tun? Noch einmal zurück fahren, um das zu überprüfen?

      Heftig schüttelte er den Kopf. Nein! Das ist völlig ausgeschlossen! Tief sog er mehrmals die kalte Luft in seine Lungen und zwang sich somit langsam zur Ruhe.

      Keinen Grund zur Panik dachte er! So, wie das knallte, nachdem ich ihn in den Schacht geschmissen habe, ist er spätestens beim Aufschlag gestorben.

      Nein, nein und basta! Schimmel ist tot!

      Nach diesem Akt der Selbstberuhigung setzte Bruhns mit dem Wagen zurück und fuhr langsam in Richtung Wohnlager.

      Doch plötzlich beunruhigte ihn noch etwas ganz anderes.

      Irgendwie musste das Verschwinden von Arno Schimmel erklärt werden! Weil es vielleicht jemanden gab, der sie zusammen gesehen hatte! Zudem konnte er morgen nicht vor die beiden verbliebenen Genossen seiner Gruppe hintreten und sich unvorbereitet von ihren Fragen überraschen lassen!

      Diese Typen verfügten zwar über keinen Dienstgrad, sie waren nur IMs. Aber sie wussten recht viel und könnten, wenn sie Verdacht schöpften, zum Problem für ihn werden.

      Plötzlich stöhnte er auf und hieb aufs Lenkrad.

      So einen Quatsch aber auch dachte er. Warum mache ich eigentlich so einen Aufriss? Ich sollte den beiden Pappnasen morgen mitteilen, dass Schimmel bei unserem abendlichen Treffen einen regelrechten Zusammenbruch erlitten hat.

      Ja! Und sogar von Selbstmord gefaselt habe er. Warum das? Wieso macht er so etwas, werden sie mich fragen.

      »Warum? Nun ja. Gerade das hat der Genosse Schimmel mir leider nicht gesagt!«, würde er antworten. »Er sprach aber von einer Frau aus dem Territorium und von einer Schwangerschaft. Und von ihrer Familie, die einen Rochus auf ihn habe. Ja, er schien Angst zu haben. Erst spät nachts hat er sich beruhigt. Als ich ihm zugesichert hatte, dass ich am nächsten Tag mit ihm zum Parteisekretär gehe und wir dort über seine Probleme reden werden. Ja, das wollte ich!

      Der Klaus Schimmel hatte aber letzte Nacht auf dem Baufeld planmäßig Transportbereitschaft. Darum musste er vor Ort bleiben. Daher bin ich, liebe Genossen, spät nachts allein ins Wohnlager zurückgefahren. Aber irgendwann scheint sich Schimmel so wie es derzeit aussieht, doch noch in der Nacht vom Baufeld abgesetzt zu haben. Stellt sich die Frage, wohin er denn hier will? Tausende Kilometer von daheim entfernt! Das wird man klären, und das müssen wir unbedingt unter Kontrolle halten, Genossen! Von Seiten der Baustelle hat man sicherlich die Miliz über das Verschwinden von unserem Arno benachrichtigt. Die werden der Sache nachgehen und die finden den Klaus Schimmel! Basta. Keine Panik. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen!«

      Erneut stoppte er den Wagen und brannte sich eine Zigarette an. Langsam wurde er ruhiger, wiegte aber missmutig den Kopf. In Gedanken ging er das von ihm skizzierte Gespräch nochmals durch und befand seine Version durchaus als brauchbar. Aber vielleicht wäre es überzeugender sich kürzer zu fassen?

      Der Motor tuckerte leise. Die mit Benzin betriebene Zusatzheizung blies mit einem hörbaren Fauchen lauwarme Luft ins Wageninnere.

      Wieso ging bei dieser Operation eigentlich von Anfang an so vieles schief, fragte er sich.

      Ganz im Gegensatz zu Gornosawinsk, wo er bis zum vergangenen Jahr alles glatt über die Bühne brachte. Wenn auch mit einer anderen Gruppe.

      Er zog heftig an der Zigarette, hieb wieder wütend aufs Lenkrad.

      War es nicht schon schlimm genug, dass er die Mitglieder der neuen Gruppe nicht in der Nähe vom Verdichter unterbringen konnte? In Orda, wie er es geplant hatte? Ein schier unmögliches Unterfangen zu dieser Zeit, wo dort alles drunter