Thomas Helm

Ost-wärts


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auf die Anwesenden deutete. »Genossen und Kollegen! Die Lage ist ernst. Das Regierungsabkommen ist in Gefahr! Die sowjetischen Genossen in Moskau haben Zweifel an unserer Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit geäußert. Die zugegebenermaßen sehr straffen Planziele sind gefährdet, wenn wir nichts dagegen tun!«

      Im Kreise der Anwesenden erhob sich leises Gemurmel und Getuschel auch erstaunte Blicke konnte man sehen.

      Wollny hob darauf hin, wie beschwörend die Hände. »Ja, ja! Genossen und Kollegen! Es ist so. Einigen von euch sollte sicherlich bekannt sein, dass unser planmäßiges Vorankommen am Linearen Teil im Bereich Barda und Orda gefährdet ist! Doch die Ausflüchte, die einige der verantwortlichen Genossen zur Begründung dafür geltend machten erwiesen sich allesamt als gegenstandslos!« Wollny hielt kurz in seiner Rede inne, bevor er nachlegte. »Nein, Genossen und Kollegen! Wir packen keinesfalls die Hände in den Schoß! In enger Abstimmung zwischen dem ZK und dem Generallieferanten sind bereits gravierende Maßnahmen beschlossen worden, die man mit den betreffenden Hauptauftragnehmern abgestimmt hat. Bewährte Mitarbeiter auch zusätzliche Technik befinden sich aus den anderen Bauabschnitten auf dem Wege hierher. Alles, um vor Ort die erforderliche Schlagkraft wieder herzustellen. Das bedeutet in den nächsten Wochen sicherlich spürbare Einschränkungen und zusätzliche Belastungen für uns alle. Da brauchen wir nicht drum herum zu reden, Genossen!«

      Viele der Anwesenden schauten sich betroffen an. Man flüsterte miteinander. Der Rest jedoch blickte mit gleichgültiger Miene angelegentlich in die vor ihnen liegenden Notizbücher. Man schrieb etwas auf oder malte Männchen.

      Wollny nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche, die vor ihm stand. Er setzte seine Brille wieder auf und fuhr fort. »Konkret bedeutet es, dass wir die Belegungen in den Wohnlagern zum Teil drastisch aufstocken müssen. Laut der Vorberechnung von der Abteilung Betreuung werden wir hier am Standort auf tausendfünfhundert und in Sosnowka beim LT auf über tausend Mann Belegung hochfahren. Das bedeutet für die Kollegen vom Linearen Teil und anderen Querschnittsgewerken eine erweiterte Zimmerbelegung von bis zu sechs Mann. Zusätzliche Wohnwagen als Alternative fallen aus. Die bekommen wir so schnell nicht auf die Standorte.« Der Parteisekretär hielt einen Moment inne, wurde dann jedoch lauter. »Jawohl! Das wird sicherlich Probleme zwischen den Kollegen geben! Wir aber können sie beherrschen, Genossen und Kollegen! Der Schichtrhythmus wird verlängert. Urlaube und freie Tage werden gestrichen. Zusätzliches Material ist zuzuführen. Also mehr als die volle Leistung auf allen Gebieten, Genossen!«

      Ein lautes Gemurmel erhob sich unter den Anwesenden.

      Der Oberbauleiter vom WBK beugte sich dicht an Kappners Ohr. So, dass er dessen Pitralon roch, das sich Ziegenfuss heute Morgen wohl ins Gesicht geworfen hatte. »Wenn man einen Motor mit mehr als voller Leistung fährt, da fliegt er zumeist auseinander!«, raunte »Zicke« und kniff ein Auge zu.

      Kappner konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Mensch, Ziegenfuss, wo bleibt da deine Linientreue? Du, der Chef vom WBK, du zauderst?«

      Wider Erwarten beruhigten sich die meisten Kollegen rasch. Viele von ihnen erhielten in den vergangenen Tagen schon Nachrichten von ihren Heimatbetrieben. Erste Vorbereitungen wurden daraufhin bereits getroffen.

      Kappner war es am Sonnabend doch noch gelungen, seine Betriebsleitung in Kungur telefonisch zu erreichen. Sein Chef hatte mit ihm die Maßnahmen zur notwendigen Erhöhung des Personalbestandes besprochen. Warenbestände im Zentrallager und deren Aufstockungen bei den planmäßigen Lieferungen aus der Heimat waren ebenfalls ein Thema. Auch ein zusätzlicher Kühlverbundzug mit Küchenware aus dem Großlager von Bogorodschany in der Ukraine wurde in Erwägung gezogen.

      Jetzt schien es angeblich ernst zu werden und alle mussten die nächste Zeit schlicht und ergreifend die Arschbacken zusammenkneifen.

      »Ich hab’ da mal ’ne Frage!«, tönte Ziegenfuß plötzlich schrill in die leise geführten Diskussionen hinein und wedelte mit der Hand.

      Zierwitz hob den Kopf. »Lass’ hören, Jan!«

      Der Oberbauleiter räusperte sich. »Betrifft das auch uns vom Wohnungsbau? Ich meine diese Mehrfachbelegung? Wir sind nämlich mit über dreihundert Mann in der Zwischenbelegung bereits ausgelastet!«

      Kappner horchte auf. Die Frage von Ziegenfuß schien berechtigt. Sie beunruhigte aber auch ihn, da sie die Belange der Versorgung betraf.

      Die Mitarbeiter vom Wohnungsbau und auch viele vom Transport wohnten nämlich nicht hier im Wohnlager im Walde, sondern in der sogenannten Zwischenbelegung.

      In einem der bereits fertiggestellten, großen Wohnblocks in der Stadt, in denen später die sowjetischen Betreiber mit ihren Familien leben würden. Dort hatte man fast alle Wohnungen als Unterkünfte hergerichtet. Und diese waren voll belegt.

      Dort unten beim Wohnungsbau ging daher im letzten Spätherbst die größte Außenstelle der Versorgung in Betrieb. Als Ersatz für das anfängliche Provisorium, dass sich in einer viel zu kleinen Varianthalle befunden hatte.

      Wenn man jetzt, in der Zwischenbelegung, auch noch Leute vom LT einquartierte, konnte es eng werden. Er, als Chef der Versorgung würde eine kurzfristige Steigerung der Küchenkapazität beim Wohnungsbau absichern müssen.

      Die Antwort von Zierwitz, auf die Frage von Ziegenfuß, beruhigte ihn jedoch umgehend. »Das betrifft euch natürlich – nicht, Jan!«, entgegnete Zierwitz und ließ ein breites Grinsen sehen. »Die Aufstockung wird beim LT in Sosnowka und hier bei uns im Wohnlager erfolgen. Zudem wären die Anfahrzeiten raus an die Linie von unten aus der Stadt viel zu lang. Es gibt in dieser Beziehung schon genug Druck wegen der Leute von RIV, die angeblich immer noch unbedingt hier bei uns im Wohnlager campieren müssen.«

      Bevor mit dem Tagesordnungspunkt »Planerfüllung« begonnen wurde verließ Kappner den Baustellenrapport. Diese Zahlenakrobatik musste er sich nicht antun. Und überhaupt hatte er jetzt Wichtigeres zu tun! Zudem war es im Beratungsraum unerträglich stickig geworden.

       Vor der Tür der Verwaltungsbaracke blieb er einen Augenblick stehen. Er atmete mehrmals tief durch und kniff die Augen zusammen. Die tief stehende Sonne blendete ihn mit ihren gleißenden Strahlen.

       Nachdenken über dieses und jenes

      Kappner betrat das Versorgungsobjekt vom Haupteingang aus und blieb überrascht im vorderen Speisesaal stehen.

      Denn er sah, dass der Kulturnik auf einer großen Tafel bereits die Fotos von der Faschingsfeier angepinnt hatte. Auf einer Liste, die daneben hing, konnte jeder Interessierte seine Bestellungen eintragen.

      Mit einem gelegentlichen Lachen schaute sich Kappner die vielen Bilder an. Letztlich blieb sein Blick auf zwei Fotos haften, die am Rande der Tafel klebten.

      Auch unter denen war neben einer Nummer ein schriftlicher Vermerk angeheftet. »Vorbereitende Sitzung des Elferrates am siebten Februar«.

      Die Bilder zeigten, inmitten der anderen Mitglieder des Elferrates, auch den lachenden Marco Bauerfeind. Eben diesen Marco, der sich am Morgen nachdem dieses Foto gemacht wurde erhängte!

      Kappner musterte die Abzüge jetzt genauer.

      Die meisten Mitglieder kannte er. Zumindest vom Ansehen her. Doch hinter Marco stand Urs Knäbelein, der DSF-Chef. Breit grinsend schaute er in die Kamera seine Hand auf die Schulter des Jungen gelegt.

      Kappner stutzte. Anscheinend hatte Knäbelein wie im letzten Jahr auch schon seine Wurstfinger in die Vorbereitungen der Faschingsfeier gesteckt. Das nahm man auf der Baustelle als gegeben hin. Ebenso wie sein künstlerisches Engagement bei Veranstaltungen jeder Art.

      Doch das dieser Marco ebenfalls im Elferrat mitwirkte, das hatte sich Kappners Kenntnis bisher entzogen.

      Nachdenklich geworden ging er nach hinten in die Küche. Dort wollte er jetzt die noch Vorbereitungen für das heutige Mittagessen kontrollieren. Das tat er gern, weil Lisa für ihren abgeleisteten Sonntagsdienst heute einen freien Tag genommen hatte. Aber auch, da es ihn gelegentlich mal an die »Küchenfront« drängte.

      Daher zog sich er sich im Küchenleiterbüro einen weißen