Thomas Helm

Ost-wärts


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sich geifernd die grauen Haare. »Scheiß’ doch auf Helden! Ich mach da nicht mehr mit, Kolja! Die gesamte Gruppe wir alle müssen uns stellen! Das kann man doch alles wieder ausbauen. Den Container meine ich. Oder? Das kriegen die Russen doch nicht mit! Und wir brauchen nicht erst rüber zum Verdichter fahr ’n. Es reicht doch, wenn wir morgen hier im Wohnlager alle drei zum Genossen Wollny gehen. Ja! Die Partei kann uns dabei helfen. Ja, verdammt, ja! Und dem Zernick müssen wir das auch sagen!«

      Nein! Zum Teufel nein hallte es in Bruhns Kopf. Du, Arno Schimmel, bist doch nur ein beschissener IM! Keiner von uns gestandenen Kämpfern! Jetzt, wo wir hier alles zum Abschluss bringen wollen, drehte der Kerl plötzlich durch! Mein Gott! Für die IMs gibt es wahrlich nicht umsonst die Legende vom »Messcontainer«!

      Für einen Augenblick hielt er die Luft an. Aber was passiert, wenn ich es nicht verhindern kann, dass Schimmel morgen das Maul aufmacht? So, wie er es anscheinend tun will?

      Diesen Geheimnisverrat würden mir die Genossen in Berlin niemals nachsehen! Nie und nimmer! Denn das ist das Verabscheuenswerteste, was es im Dienst überhaupt gibt! Wenn das Vorhaben enttarnt wird, weil der Schlappsack quatscht, bin ich im Arsch! In dem Moment bin ich so gut wie tot!

      Unvermittelt spürte Bruhns, wie ihn kalter Schweiß ausbrach. Erregt rieb er sich die Nasenwurzel mit seinen steifen Fingern. Ich muss handeln, schoss es ihm durch den Kopf. Dem Unheil vorbeugen! Das Vorhaben und mich retten! Und zwar sofort!

      Entschlossen sprang er auf und huschte hinter Schimmels Stuhl. »Mann! Beruhige dich endlich, Arno! Es reicht!«, sagte er mit leidenschaftsloser Stimme. Er klopfte dem vor ihm Sitzenden besänftigend auf die Schulter, wobei sein Blick rasch durch den Container irrte. »Wir reden morgen drüber. Werden auf jeden Fall einen Ausweg finden, Arno! Sicher gibt es eine Lösung. Kannst du glauben!«

      Schimmel nickte daraufhin mit dem Kopf. Er zog die Nase hoch und suchte unversehens in seiner Wattehose nach einem Taschentuch.

      Es passierte wie fast von ganz allein. Bruhns brauchte nur die rechte Hand auszustrecken, um nach dem Hammer zu greifen. Dessen fleckiger Stiel ragte über die obere Kante eines Garderobenspindes. Die Hand schloss sich fest um das klebrige Holz.

      Sein Hieb kam blitzschnell. Der Stahl knallte auf Schimmels Hinterkopf und beim zweiten Schlag hörte er das Knacken der Hirnschale.

      Lautlos kippte Arno Schimmel nach vorn gegen die Tischplatte. Nur ein feines Pfeifen gab er von sich. Sonst nichts!

      Bruhns hingegen stand wie erstarrt. Der Hammer fiel ihm aus der Hand. Sein Herzschlag dröhnte ähnlich einer gerissenen Glocke. Nach wenigen Augenblicken fiel die Starre jedoch von ihm ab und er atmete tief durch.

      Im Container herrschte für einen Moment kalte Stille.

      Bruhns’ trainierte Sinne schienen gespannt wie Klaviersaiten. Seine Bewegungen wirkten fast katzenhaft. Er huschte zum Eingang und schaltete das Licht aus. Vorsichtig öffnete er die Tür.

      Eiseskälte schlug ihm entgegen. Leise trat er über die Schwelle hinaus, lauschte und schaute sich um. Niemand war zu sehen oder zu hören. Schweigen ringsum. Er zog die Tür von innen an das Schloss heran und knipste die Beleuchtung wieder an.

      Zögerlich trat er hinter den stummen Transportmeister, der zusammengesunkenen auf dem Stuhl hockte. Auf dem lädierten Hinterkopf glänzte nunmehr dunkles Blut zwischen den wirren, grauen Haaren.

      Bruhns atmete tief durch. Er zerrte die Kapuze von Schimmels Wattejacke über dessen Kopf und zog die Verschnürung unterm Kinn fest. Daraufhin packte er den Toten bei den Schultern, drückte ihn gegen die Stuhllehne zurück.

      Dabei vermied er es, ihm ins Gesicht zu sehen. Doch mit einem hastigen Blick vergewisserte er sich, ob sich Blut auf dem Tisch oder auf dem mit Sand bestreuten Fußboden befand. Dort konnte er jedoch keines entdecken.

      Unverzüglich wandte er sich den Dingen zu, die auf der klebrigen Wachstuchdecke herumlagen. Die Zigarettenschachtel und das Gasfeuerzeug des Transportmeisters nahm er an sich. Auch sein eigenes Rauchzeug steckte er ein. Mit zitternden Fingern durchsuchte er Schimmels Taschen. Visitierte ihn nach Papieren und sonstigen Gegenständen. Tastete dessen Hals nach einer Kette seine Hände nach einem Ring ab. Was er dabei fand, stopfte er in die Innentaschen seiner Wattejacke.

      Nach einem letzten Kontrollblick lud er sich den unerwartet leichten wegen der dicken Kleidung aber unförmigen Körper wie einen Sack auf die Schulter. Er schleppte ihn zum Ausgang hin. Mit der freien Hand schaltete er das Licht aus und öffnete die Tür.

      Er hielt kurz inne und lauschte, stapfte dann mit seiner Last zum Wagen. Dort schob er den schlaffen Körper in den Fußraum vor den Hintersitzen. Von der Sitzbank zerrte er eine dunkelbraune Wolldecke über den Toten, um ihn vor eventuellen Blicken zu verbergen. Leise drückte er die Wagentür zu und atmete auf.

      Er wollte soeben in den ARO einsteigen, als es ihn glühend heiß durchzuckte. Der Hammer! Verdammt! Wie konnte er nur den Hammer liegen lassen!

      Rasch holte er das blutbespritzte Werkzeug aus dem Container und warf es zu dem toten Körper ins Auto.

      Fast drei Stunden hatte der ARO in der Kälte gestanden.

      Er musste ihn daher lange vorglühen. Nach dem dritten Startversuch sprang der Motor endlich an.

      Er schaltete nur die Begrenzungsleuchten an und fuhr langsam los. Nach dem hinteren Tor bog er auf die Baustraße ein, die durch den Wald führte. Die tagsüber viel befahrene Plattenstraße hatte man heute erst gestreut. Bruhns gebot sich, dennoch vorsichtig zu sein.

      Angestrengt starrte er voraus durch die beschlagene Frontscheibe. In dem großen Waldstück begegnete ihm kein Fahrzeug.

      Bald erreichte er die erste Abzweigung am anderen Waldrand. Von dort aus warf er einen Blick hinüber zum Wohnlager. Dessen Lichter konnte er über die ausgedehnte Schneefläche hinweg sofort ausmachen.

      Unverzüglich bog er an der Wegegabelung nach rechts ab und fuhr wieder in den Wald hinein. Immer weiter in Richtung Stadt.

      Der Eisbelag innen an der Frontscheibe war inzwischen abgetaut. Am samtschwarzen Nachthimmel stand der abnehmende Mond im letzten Viertel. Sein fahles Licht lag über dem dicht verschneiten Wald. Es bot dennoch genügend Helligkeit für eine nächtliche Fahrt.

      Polternd und hüpfend überquerte der Wagen wenig später die Kuppe der sanft ansteigenden Plattenstraße.

       Bruhns nahm kurz den Fuß vom Gaspedal und atmete auf. Von hier oben aus konnte er weit hinter dem Waldrand bereits die Lichter von Prokowski erblicken. Dort nach der Stadt auf dem Staudamm lag sein Ziel.

      Kapitel 2 – aufziehende Schatten

       Ein strategisch bedingtes Vorgehen

      In dem Augenblick, als er auf Schimmel einschlug, hatte Bruhns in seinem Kopf eine plötzliche, rauschende Leere empfunden. Wie ein völliges Vakuum fühlte sich das an.

      Doch bereits wenig später nahm er alles um sich herum fast überdeutlich wahr.

      In seinem fiebrig arbeitenden Hirn entstand rasch ein Plan für eine weitere Vorgehensweise. Dabei schien es sich tatsächlich auszuzahlen, was man ihnen mal in der Ausbildung beigebracht hatte. Unerwartet auftretende Situationen sollten blitzschnell analysiert werden, um unverzüglich brauchbare Lösungswege zu finden.

      Daher wusste er auch sofort, wohin er Schimmels toten Körper bringen würde. Denn er kannte einen Ort, wo man die Leiche kaum entdecken konnte. Und als ihm das einfiel, vermochte er ein gehässig klingendes Kichern nicht zu unterdrücken.

      Es passierte im vergangenen Sommer. Man hatte ihn gebeten, bei einem der üblichen, organisierten Freundschaftstreffen als Dolmetscher auszuhelfen.

      Bruhns willigte natürlich sofort ein. Denn Treffen solcher Art versprachen Stimmung, deftiges, russisches Essen, reichlich Wodka und Vergnügen.

      Zusammen mit einigen anderen Kollegen fuhr er mit dem Bus ins »Kulturhaus der Werftarbeiter« von Prokowski.

      Bei