Peter Georgas-Frey

Soantà und Als Paolos Hände reden lernten


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Insel bedeutet, hatte sich aus einem gewaltigen Schlot, den ein untermeerischer Vulkan vor Urzeiten ausgestülpt hatte, entwickelt und war über Jahrmillionen nach und nach von verschiedenem Leben besiedelt worden. Sie war von allen Seiten weit mit Meer umgeben. Und es mochte wohl nichts zu ihr gehören, was nicht von Anbeginn zu ihr gehörte. Das Leben auf der Insel war leicht. Es war ganzjährig warm, es gab viele essbare Pflanzen, viel Fisch, reine, gute Quellen und man mochte kaum glauben, dass anderswo Hunger oder Kälte möglich waren.

      Paolo lebte mit seinen Eltern, zwei Schwestern und einem Bruder, der grade neu geboren worden war, in einer großen, hellen Hütte inmitten des Dorfes und alles, was er sich je wünschte, war, das Leben seiner Eltern fortzuführen. Seine beiden Schwestern waren beide älter als er, sechzehn und achtzehn, und bald würden sie das Haus ihrer Eltern verlassen, um das eines Bräutigams zu beziehen. Nono, die Achtzehnjährige, sollte im nächsten Jahr mit Madosch verheiratet werden, und Litau, die Jüngere, hatte wohl einen Verehrer, darüber durfte aber noch nicht offen gesprochen werden.

      Paolos Vater, Rentai, war ein gerechter und wohlmeinender Familienvorstand, der es mit all seinen Kindern gut meinte, aber auch früh darauf achtete, dass sie lernten, den Vorteil des Dorfes zu sehen und sich nicht auf die Sippe zu beschränken. Er war Fischer, wie alle Männer des Dorfes. Nur selten gingen die Männer für einige Tage über die Insel, um Wild zu jagen.

      Paolos Mutter, Sintat, war eine hübsche und warmherzige Frau, die dem Haus und den Kindern ihre eigene Schönheit einhauchte, sodass die Nachbarn und die anderen Kinder gern nach ihr und der Familie sahen.

      Überhaupt war das Dorf eine stolze, schöne, fröhliche, fleißige und ehrbare Gemeinschaft, die wusste, wie sehr der Friede aller am Glück jedes Einzelnen hing und dass man nie würde nachlassen dürfen in dem Bemühen, für Gerechtigkeit und Ausgleich zu sorgen.

      Wenn einem ein Kind starb, so trauerten alle und derjenige durfte, sofern er es wollte, umso inniger die anderen Kinder mit großziehen. Wem die Mutter starb oder der Vater, der fand in allen Männern oder Frauen Ersatz. Die Kinder nannten die älteren Pa, was Vater bedeutete, und die Mütter Ma.

      Es gab im Dorf keinen Hunger. Was gefangen wurde, erhielt die Gemeinschaft zu gleichen Teilen, nur leicht abgestuft zum Vorteil der Kinder. Es gab einen Häuptling, aber dessen Wort wog nur bei Streitigkeiten. Er saß dann der Dorfversammlung vor, bei der abgestimmt wurde, wie die Gemeinschaft einen Streit entschieden haben wollte. Parteilichkeit wurde dabei nicht geduldet. Es war verpönt, jemanden im Vorfeld einer Abstimmung für sich zu gewinnen. Deshalb versuchte es niemand.

      Es würde den Rahmen dieser kleinen Geschichte sprengen, alle vorstellen zu wollen. Denn es waren beinahe vierhundert Menschen. Aber wie immer gibt es einige, die sind für einen bestimmten Zusammenhang wichtiger als andere, und diese vorzustellen, bietet sich dem Erzähler hier an:

      Da war zum einen der alte Kamall. Er gehörte zu den Dorfältesten und war für Paolo ein Ersatzgroßvater, nachdem Paolos Großvater vor einem Jahr gestorben war. Kamalls Haut war alt und sie war grob und furchig wie Baumes Rinde, und seine Augen waren tief wie ein stilles Meer. Er war nicht mehr gut auf den Beinen und saß die meiste Zeit des Tages vor seiner Hütte auf einer Bastmatte, saugte Zuckerrohr oder rauchte ein heimisches Kraut, das er versteckt in den Wäldern fand, aus einer selbstgebauten Wasserpfeife aus Bambusrohr und einer Kokosnuss. Das Kraut hatte eine leicht berauschende Wirkung und durfte nur von denen geraucht werden, die alt genug waren.

      „Für die Kinder mehr Essen, damit sie stark im Leben werden, und für die Alten ZuckZuck”, so hieß das Kraut, „damit sie leicht beim Sterben werden”, pflegte Kamall zu sagen. Und wies wenn nötig auch einmal den jungen Paolo zu Recht, wenn der sich beklagte, das Kraut nicht versuchen zu dürfen.

      Kamall also saß auf dem Bast, mit dem Rücken gegen die Stämme gelehnt, aus denen die Wände seiner Hütte bestanden, die Beine angezogen, die Ellbogen auf die Knie abgelegt und den Kopf in beweglicher Veränderung. Rauchte ZuckZuck und beobachtete mit weise gewordenen Augen die Männer beim Netzeflicken, die Frauen bei der Zubereitung von Fisch oder Früchten und die Kinder beim Spiel. Des Alten Hütte lag, wie die aller Älteren, am Rande des Dorfes, damit sie ihre Ruhe hatten vor Lärm und zu lautem Kinderspiel und nahe bei dem waren, zu dem sie bald wieder werden sollten: Erde und Wald.

      Neben Kamall gab es die Kräutersammlerin Lavel. Die brachte dem alten Kamall dessen Kraut, wenn der gar nicht gut zu Fuß war, und sorgte mit ihren Kräutermischungen für Erleichterung unter den Kranken. Lavel lebte allein. Sie hatte, nach ihrem Verständnis, keinen Mann und durch ein Unglück ihr Kind früh verloren. Darum hatte sie sich das Recht erstritten, für sich allein zu leben.

      Es gab unter den Menschen des Dorfes kein Gesetzbuch, das alles erklärte. So war die Gemeinschaft gezwungen, auf bestimmte Zusammenhänge bestimmte Lösungen zu finden. Es gab Konflikte, in denen man sich auf frühere Streitfälle berufen konnte, aber manche brachten auch ganz Neues hervor. Ein solch eigenwilliger Fall war der von Lavel gewesen. Nach dem frühen Tod ihres Kindes hatte sie nicht mehr mit ihrem Mann leben wollen und erklärt, sie wolle nun der Gemeinschaft durch das Sammeln und Verabreichen von Kräutern dienen, aber nicht mehr als Ehefrau oder Mutter.

      Das war eine bis dahin unbekannte Forderung. Normalerweise trennte die Partner nur der Tod, und so hatte man sich lange beraten, wie es im Falle Lavels gehen sollte. Diese hatte schließlich die Gemeinschaft überzeugt, dass für sie und ihren Mann ein Zusammenleben nur unerträgliche Erinnerung wach halten würde. Die Dorfgemeinschaft hatte dies eingesehen und beiden ein Haus, jeweils am entgegengesetzten Dorfende zugesprochen. Seitdem verteilte Lavel die Kräuter, die sie im Wald fand, und saß am Abend vom nahenden Dunkel still und einsam gemacht, dem Weh ihres Verlustes nachsinnend, allein in ihrer Hütte.

      Den Tag über aber war sie eine geachtete und auch gefürchtete Person im Dorf. Sie verschwand für Stunden im Wald, um sich nach geheimer Suche und Zubereitung ihrer Tinkturen weiteren Stunden der Pflege eines Kranken zu widmen. Manche von Lavels Kräutern verhalfen ihr zu Visionen. Nicht selten zeichnete sie, nach Einnahme einer ihrer Tränke, Bilder und deutete später durch die Farben ihrer Vision einem Dorfbewohner die Zukunft.

      Paolo mochte die Kräuterfrau, weil der alte Kamall gut von ihr redete. Er hatte aber auch Angst vor ihr und wusste nicht, ob er ihr trauen konnte. Lavels Augen waren streng und ernst und voll unergründlicher Trauer, und Paolo war froh, dass der Moment noch nicht gekommen war, da er sie hätte berühren müssen.

      Madosch, der nächste im Kreis derer, die in dieser Geschichte bedeutsam sind, war der zukünftige Ehemann von Paolos ältester Schwester. Er war der Sohn von Paolos Nachbarsfamilie. Madosch war frisch in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen. Er schien aber mit seinem Leben und mit seinen neuen Pflichten nicht glücklich. Madosch war, seit er einmal als Kind vom Vater Prügel bekommen hatte, was im Dorf unüblich war und nach dem Übergriff zu einer Rüge von Madoschs Vater durch den Dorfrat geführt hatte, düsterer und unnahbarer als die anderen Bewohner des Dorfes. Er mied die gemeinsame Arbeit mit den anderen Männern und versuchte so gut er konnte, nicht in ihre Aufgaben eingebunden zu werden. Madosch redete nicht viel und nicht gern, und es gab nur eine Ausnahme, bei der man ihn fröhlich erlebte. Nämlich, wenn er sich mit Paolo, seinem zukünftigen Schwager, einen Spaß erlaubte. Paolo ließ es sich gefallen, weil ihm Madosch Leid tat und weil er seiner Schwester Streit ersparen wollte, die es gar nicht leiden konnte, dass Madosch ihren kleinen Bruder so oft neckte. Madosch aber taten die Späße gut. Er war dann ein ganz anderer. Und wenn es ihm gelang, Paolo in eine Falle tappen zu lassen, konnte es sogar vorkommen, dass man ihn lachen sah.

      Samsam nun war der kräftigste unter den Männern und Paolos Schutz gegen alle Bedrohungen. Sei dies Madosch, seien es Hunde oder andere Ärgernisse, wenn Samsam mit seiner Bärengestalt in Paolos Nähe war, durfte sich dieser in Sicherheit wiegen.

      Samsam klug zu nennen, wäre eine Schelmerei. Denn wenn es darum ging, Zusammenhänge schnell und zielgerichtet zu überschauen, zeigte Samsam keine Stärke. Passender ist es, ihn als treu und mutig und gerecht zu charakterisieren. Denn Samsams langsames Denken verhalf ihm zu einer gewissen Gründlichkeit des Denkens, so dass er einen Freund für lange Zeit in sein Herz schloss, hatte er erst einmal den Freund in diesem Menschen gesehen. Er nahm Gefahren gleichmütig in Kauf, denn wenn er sich