Lara Myles, Barbara Goldstein

In Gedanken bei dir


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stehen Nick und mir noch bevor?

      Nie mehr würde sie die Finger durch Jolies weiches Haar gleiten lassen, nie mehr mit ihr unter der Bettdecke Höhlentauchen spielen, nie mehr mit ihr in Blubbersprache sprechen, als wären sie mit einer Atemmaske unter Wasser, nie mehr würde sie mit ihr in einem Bett schlafen und sie in den Armen halten, nie mehr mit ihr schmusen und kuscheln.

      Ich muss mich zusammenreißen!, ermahnte Cassie sich und richtete sich auf.

      Sie war heute früher in die Klinik gekommen, um mit Jolie über das Fernsehinterview zu sprechen. CBS San Francisco war auf ihre Website help-jolie.com aufmerksam geworden. Die Redakteure glaubten, dass Jolies Geschichte auch für andere eine Bedeutung haben könnte, und wollten Cassie mit einem Beitrag in den Eyewitness News at 5 bei der Suche nach einem Knochenmarkspender unterstützen. Die Spenderdatei Bone Marrow Donors Worldwide hatte bisher nur einen Spender mit den passenden HLA-Merkmalen für eine lebensrettende Transplantation finden können – in Australien. Doch bevor er für Jolie spenden konnte, starb er vor wenigen Tagen bei einem Motorradunfall im Outback, bei einem Crash mit einem Känguru.

      Ihre Website war nun ihre letzte Hoffnung. Und natürlich ihre Freunde in aller Welt. Erst gestern hatte Cassie an sie alle gemailt:

      Von: Cassie [email protected]

      An: Alle Kontakte

      Kopie: Nick [email protected]

      08.08.2012 / 22:58

      Betreff: Jolies glückliches Lächeln

      Liebe Freunde, die ihr mir beisteht in dieser schweren Zeit. Ihr macht mir ein wundervolles Geschenk: Das Gefühl, nicht allein zu sein.

      Die Chemo ist jetzt überstanden, und Jolie geht es gut. Sie ist jetzt fieberfrei und spielt mit den Kids in der Klinik und den vielen Geschenken, die sie von euch allen bekommen hat. Ihr Zimmer war voller Kartons mit bunten Schleifchen und Glitzersternchen, und Nick und ich mussten acht Mal laufen, um den ganzen Haufen auf der Ladefläche meines Pickups zu verstauen.

      Jolie hat sich ausgesucht, womit sie zuerst spielen will. Nick und ich werden unserer Kleinen immer wieder neue Spielsachen mitbringen und alte auf meinem Hausboot in Sausalito verwahren. Jolie hat mich gebeten, euch allen für die tollen Geschenke zu danken. Sie hat sich sehr darüber gefreut.

      Auf meiner Website habt ihr von dem tragischen Unfall in Australien gelesen. Wie soll ich meine Trauer, mein Beileid und mein Mitgefühl in Worte fassen? In mir sind so viele Gefühle, die ich am liebsten in einer herzlichen Umarmung ausdrücken würde. Meine Gedanken gelten Coopers Familie, seiner Frau und seinen beiden Kinder, vier und sechs.

      Es fällt mir schwer, etwas Persönliches über Coop zu sagen, um ihn zu würdigen. Ich weiß nicht, wie er als Mensch war, als Ehemann, als Vater, als Freund. Ich habe ihn ja nur am Telefon kennengelernt, als ich ihm sagte, wie glücklich ich wäre, dass er Jolies Leben retten wollte. Wir haben miteinander gelacht, und er hat mir Hoffnung geschenkt. Und nun bin ich traurig, dass er aus seinem Leben gerissen wurde.

      Nick hat auf unserer Website eine virtuelle Kerze für Coop entzündet. Wer will, kann dort mit uns trauern, seiner Familie in Sydney kondolieren oder einfach einen Gedenkspruch posten.

      Coop, Du wirst uns allen unvergessen bleiben.

      Nick und ich hoffen, dass Jolie trotz allem, was dagegen spricht, überleben wird. Und wir danken euch, dass ihr alle euch als Knochenmarkspender habt testen und registrieren lassen. Leider kommt keiner von euch für die Transplantation infrage, ebenso wenig wie Nick und ich. Trotzdem sind wir dankbar, dass Jolies Krankheit uns überall auf der Welt zusammengeführt hat. Eure Freundschaft und eure Anteilnahme schenken uns Gelassenheit und Stärke und verleihen unserem Leben Würde. Auch wenn wir manchmal Angst haben und den Mut verlieren, wir werden gegen die Krankheit kämpfen und uns von ihr nicht besiegen lassen. Und Jolie, my funny little girl, ist die Tapferste von uns.

      Herzliche Grüße,

      Cassie

      Anlage Jolies glückliches Lächeln.jpg

      Cassie beugte sich vor und stellte die Blue-Dolphin-Slippers wieder vor das Krankenbett. Dann sprang sie auf, um die Jalousien vor dem Fenster zu öffnen.

      Warme Sonnenstrahlen fluteten in den Raum, und mit dem hellen Licht auch die leuchtenden Farben des beginnenden Indian Summers im nahen Golden Gate Park. Viele Bäume zeigten bereits erste herbstliche Schattierungen von Gelb, Ocker und Rot bis hin zu violettem Braun. Und in der Luft lag die fröstelige Kühle des vom Pazifik heranschwebenden Nebels.

      Wolken aus Zuckerwatte und Nebel aus zerlaufender Sprühsahne, hätte Jolie dazu gesagt und hätte kichernd das Konzert der fernen Nebelhörner der Schiffe unter der Golden Gate Bridge mitgesummt: »Boooo!« und »Bwwww!«

      Cassie packte die neue Bettwäsche aus, um Jolies Bett frisch zu beziehen. Mit den lebendigen Farben der selbst gestalteten Bettbezüge versuchte sie gegen die kalte Neonbeleuchtung des Zimmers und die sterile Krankenhausatmosphäre mit piepsenden Infusionspumpen und dem süßlichen Duft der Chemo anzugehen.

      Die Motive, die sie jede Woche in einem Laden in der City auf die Decken- und Kissenbezüge drucken ließ, hatte sie während ihrer Arbeit als Unterwasserarchäologin bei der UNESCO in aller Welt fotografiert. Auf der Bettwäsche waren romantische Schiffswracks in dunkelblauem Wasser zu sehen. An einer glitzernden Schnur aus Blubberbläschen schien eine kleine Taucherin im bunten Neoprenanzug zu hängen: Das war sie. Auf einem anderen Foto schwebte sie in einem Wirbel bunter Fische im türkisblauen Wasser über einem tropischen Korallenriff. Jolies liebste Schmusebettwäsche zeigte ein Wrack, das an den Felsklippen vor einer Insel zerschellt war: Mit hochgeschobener Taucherbrille hockte Cassie im kurzen Tauchanzug auf den Felsen, paddelte mit den Flossen im Wasser und winkte.

      Das heutige Foto war erst vor wenigen Tagen entstanden, als Nick und Cassie zum kürzlich entdeckten Schiffswrack der Armada of Golden Dreams in der San Francisco Bay getaucht waren. In einer Wolke von silbrig schimmernden Atembläschen schwebten Nick und sie, beide mit schwarzen Neoprenanzügen und neongelben Pressluftflaschen, über dem Wrack und erforschten es.

      Wie bei allen anderen Motiven hatte Cassie auch auf diesem Foto mit Photoshop einen Schatz versteckt, den Jolie suchen musste, im Sand neben dem Wrack, zwischen den Planken oder hinter dem Korallenriff. Auf allen vieren tobte ihre kleine Abenteurerin dann kichernd über das frisch bezogene Bett und sah sich das neue Bild mit ihrer archäologischen Ausrüstung – Taschenlampe und Digitalkamera – ganz genau an. War das immer ein Spaß!

      Auf diese Weise konnte sie Jolie an ihrem Leben teilhaben lassen, auch wenn sie nicht immer bei ihr sein konnte. So oft wie möglich schlief Cassie bei ihr in der Klinik, und Nick löste sie oft dabei ab. Aber manchmal wollte sie auch einfach bei ihm sein, wie heute Nacht. Zu zweit allein, zwei Liebende, die in den Armen des anderen schwach sein durften, verzweifelt, traurig.

      Wie viel hatten Nick und sie gemeinsam durchgestanden. Die Erfahrung, gemeinsam ein aufgewecktes Kind wie Jolie großzuziehen, die Schwangerschaft, Cassies Zusammenbruch, die Trennung von Nick, die schlaflosen Nächte und die panische Angst um ihre Kleine, die unzähligen Fahrten in die Klinik, all das hatte an ihren Kräften gezehrt und hatte sie oft regelrecht überfordert. Nick und sie brauchten dringend ein bisschen Zeit nur für sich. In den letzten Wochen saßen sie sich allzu oft beim Abendessen auf der Veranda des Hausboots gegenüber, starrten auf die nebelige Bay und schwiegen sich an. Nach der Trennung waren sie wieder ein Paar, ja klar, aber sie mussten auch die Kraft haben, weiterhin zusammen zu bleiben ... einander Halt zu geben ...

      Fußgetrappel und Kinderlachen drangen vom Gang zu ihr herein. Der Duft von heißem Kakao überdeckte den allgegenwärtigen Geruch von Medikamenten und Desinfektionsmitteln.

      »Hallo, Dr Lacey«, rief eine helle Kinderstimme von der Tür her.

      Cassie drehte sich zu dem kleinen Jungen um, der mit dem Teddy im Arm seinen Infusionsständer vor sich her schob. Durch einen Schlauch tropfte eine klare Flüssigkeit in seinen Hickman-Katheter, dessen Silikonschläuche aus dem Kragen seines Batman-Shirts samt Fledermausohrenkapuze und schwarzem Umhang