Lara Myles, Barbara Goldstein

In Gedanken bei dir: Sonderausgabe mit vielen Fotos


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die Schule gehen zu dürfen, wie alle anderen Kinder, die gesunden. Karens Prognose hat selbst diesen Wunsch vernichtet: nur noch Wochen.

      Meine Tochter wird niemals sechs Jahre alt werden.

      Sie wird bald sterben.

      Cassie fiel es schwer, diesen Gedanken zu Ende zu denken, er war einfach zu schmerzhaft.

      Nie mehr würde Jolie mit einem Schokoriegel Bilder an die Wand ihres Kinderzimmers auf dem Hausboot malen.

      Nie mehr würden Cassie und Jolie gemeinsam Tauchexpeditionen in die Badewanne planen, mit Tauchbrille und Schnorchel und Flossen und Lego-Schatztruhe voller bunter Badeperlen – das Bad stand jedes Mal unter Wasser, weil Jolie mit den Flossen hohe Wellen schlug, die aus der Wanne schwappten.

      Nie mehr würden sie zusammen fantasievolle Tiermasken aus Eierkartons, Fingerfarben, Fell und Federn basteln, Tiger und Löwen, wie in den WWF-Videos, Kängurus und Pinguine, oder einen Delfin, wie Jolie einen adoptiert hatte.

      Nie mehr würden sie miteinander süßes Sushi herstellen, die Rolls aus Kokosreis mit Schokoglasur und einer Hülle aus Kekskrümeln, mit Mango statt Jakobsmuschel, Papaya statt Lachs, Erdbeeren statt Thunfisch, Cranberries statt Fischrogen und Kiwipüree anstelle von scharfem Wasabi. Keine California Rolls mehr, Apfel, Kiwi und Minzblättchen in einer feinen Schicht aus Zartbitterschokolade, umhüllt mit süßem Milchreis, getupft in Krokant. Hey, welches Kind mochte schon Obst? Aber so bekam Jolie immer die Vitamine, die sie brauchte, und manchmal auch Antibiotika. Sie liebte süßes Sushi über alles.

      Cassie wusste nicht, ob sie den Schmerz ertragen konnte, Jolie zu vermissen, zu wissen, was sie alles versäumt hatte, noch mit ihr zu erleben. Wenn sie doch nur ...

      »Mommy?« Jolie sah zu ihr auf, das Playmobil in der offenen Hand. »Weißt du, was ich mir am allerdollsten wünsche?«

      Cassie rieb ihren schmalen Rücken, als sie schniefte. »Was wünschst du dir, meine Süße?«

      Jolie zeigte ihr die Figur, die Alex darstellte, vor zehn Jahren, in Canyonlands. »Ich will Daddy kennenlernen.«

      Wie viel Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe steckt in diesen Worten!, dachte Cassie. Wie viele Umarmungen und Küsse hat sie nie bekommen, weil Alex mich verlassen hat, bevor sie geboren wurde, bevor ich überhaupt wusste, dass ich schwanger war. Wie viele Gute-Nacht-Geschichten wurden nie erzählt, wie viele Kinderbücher nie vorgelesen, weil Jolie keinen Daddy hatte – Nick tut alles für sie, versucht ihr den verlorenen Vater zu ersetzen, aber wir sind noch nicht mal zwei Jahre zusammen.

      Ich will alles tun, um Jolies Wunsch zu erfüllen, den Karen vorhin als ihren letzten bezeichnet hat. Ich will ihr die verlorene Hoffnung wiedergeben.

      Sein Brief ...

      Ich weiß jetzt, wo Alex ist.

      Ihre Augen schwammen in Tränen, und das Sprechen fiel ihr schwer, als sie mit dem Daumen den Ring an ihrem Finger drehte. »Meine Süße, ich werde deinen Daddy suchen und zu dir zurückbringen.«

      Jolie blinzelte zu ihr hoch. »Aber wo ist er?«

      »Ich hab vorhin ein Video von ihm gegoogelt. Soll ich’s dir zeigen?«

      Die Kleine plinkerte, und ihre Augen funkelten vor ungeweinter Tränen. Sie zog den Mundwinkel hoch. »Mhm.«

      Cassie nahm das Tablet ihrer Tochter vom Nachttisch und wischte auf dem Monitor den Screensaver weg.

      Okay, Jolie hatte wieder auf panda.org/about_our_earth/ gesurft und sich Tiervideos angeschaut. Meeresschildkröten und Delfine. Für Jolie war die Website des World Wildlife Fund die Welt, die sie nie kennenlernen würde. Ihre Kleine, die selbst mit dem Tode gerungen hatte, setzte sich für bedrohte Arten ein. Sie spendete ihr Taschengeld, sie übernahm die Patenschaft für einen Delfin, dessen Foto sie als Lesezeichen benutzte, sie beobachtete wilde Tiere über Webcam, sie twitterte eifrig mit und stellte den Experten bei WWF viele Fragen per Mail: Wie fühlt es sich an, wenn ich einen Elefantenrüssel streichele? Oder: Wenn Delfine miteinander sprechen können und sich bei ihren Namen rufen, können sie auch übereinander lachen?

      Cassie tippte den Internet Explorer auf. Okay, jetzt zu Wikipedia. Suche: Mount St Helens. Der Artikel mit dem Bild des rauchenden Vulkans erschien auf dem Bildschirm.

      Jolie beugte sich vor und überflog den ersten Absatz: »Der Mount St Helens ist ein aktiver Vulkan in Washington, im pazifischen Nordwesten der USA ... Der Vulkan liegt in der Cascade Range am pazifischen Feuerring ... Der Mount St Helens ist gefürchtet wegen des katastrophalen Ausbruchs am 18. Mai 1980 um 8.32 Uhr, des tödlichsten und zerstörerischsten Vulkanausbruchs in der Geschichte der USA ... Das Mount St Helens National Volcanic Monument wurde gegründet, um die Folgen der Eruption wissenschaftlich zu erforschen ... Wow!« Jolie sah zu Cassie auf. »Und da ist Daddy?«

      »Er ist Geologe. Er erforscht den Vulkan.« Cassie scrollte den Artikel nach unten, damit Jolie sich die Luftaufnahmen des Vulkans ansehen konnte. Über das Foto von der gewaltigen schwarzen Wolke über dem ausbrechenden Vulkan sprang sie hinweg, um Jolie nicht zu beunruhigen. Dafür zeigte sie ihr das 360°-Panorama vom Krater mit dem Spirit Lake im Hintergrund.

      In den External Links unten auf der Seite öffnete Cassie die Website des US Forest Service. Dort tippte sie auf den Link Volcano Science and Research. Auf der Seite gab es eine Fotogalerie des US Forest Service über die Wiederkehr des Lebens nach der Katastrophe am Vulkan, Fotos und Videos des US Geological Survey, aber auch wissenschaftliche Publikationen von Dr Alex Lacey, USGS.

      Jolie machte große Augen. »Daddy.«

      »Ja, genau.« Cassie ging zurück zur Website des National Monument. »Guck mal das Video hier.«

      Sie tippte auf Play, und das Logo des USGS erschien. Darunter stand: Science for a changing world. Cassie wusste, die ersten Aufnahmen zeigten den gewaltigen Vulkanausbruch und die Wissenschaftler, die den Mount St Helens überwachten – den Schock, dass ihr Daddy in Gefahr sein könnte, ersparte sie Jolie. Cassie schob den Regler einige Minuten vor und startete das Video mit dem Blick aus der Ferne in den tief verschneiten Krater. Die nächste Szene zeigte einen Forscher des US Geological Survey, der im rauchenden Krater seismische Messungen durchführte und Gasproben nahm. Im Hintergrund war ein Hubschrauber zu sehen, dessen Rotoren die aufsteigenden Fumarolen verwirbelten. Sie hielt das Video an, als der Wissenschaftler im neongelben Overall zum Heli hinüberlief und sich vor dem Einsteigen kurz zur Kamera umdrehte.

      Jolie nahm das Tablet in beide Hände und sah sich das Standbild genau an. »Daddy«, flüsterte sie andächtig und berührte Alex’ lächelndes Gesicht auf dem Touchscreen mit den Fingerspitzen.

      Das Video lief weiter. Alex stieg ein, der Hubschrauber hob ab und verschwand hinter dem Kraterrand.

      Jolie hielt den Clip an, schob den Regler zurück und schaute sich die Szene noch mal an, stolz und ergriffen. »Tief im Herzen von dem Vulkan. Da ist mein Daddy.«

      Alex ... in Großaufnahme herangezoomt ...

      Nick starrte das Foto auf dem Bildschirm des Notebooks an, und ihm wurde heiß, so heiß, dass er schwitzte, während er in seinem Inneren vor Kälte zitterte.

      Nachdem Cassie die Scheidungspapiere gelesen hatte, hatte sie ihren Ex gegoogelt.

      Hat ihr Herz dabei geklopft wie meines gerade jetzt?, fragte er sich. War sie so aufgewühlt wie ich, als würde sie ihm gleich gegenübertreten, nach all den Jahren?

      Was hatte Cassie sich alles angesehen?

      Im Internet Explorer klickte er unter Favoriten den Verlauf ihrer Recherche auf. Unter Heute standen die Links. Nick zappte sie von oben nach unten durch. Alex Laceys Website. Schickes Design, sehr aufwändig programmiert, Flashbooks zum Umblättern mit Soundeffekt, Fotos und Videos, echt toll. Na gut, weiter. Amazon.

      Ah, okay, Alex hatte einen Stapel Bücher geschrieben. Und noch mehr Videos gedreht. Nick scrollte nach unten. Grand Canyon. Monument Valley. Yellowstone. Ayers Rock. Great Barrier Reef. Rift Valley. Angel Falls. Mount Waialeale. Mauna Kea. Palau. Er klickte ins Look inside und sah sich Alex’ Buch über