Angelika Schaeuffelen

LULUS MISSION


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eines Abends, nach einem Klavierkonzert, welches die Zuhörer tief berührte, geschieht etwas Sonderbares.

      Wie Lulu spazieren die Leute, noch von der Musik beseelt, zu dem großen Parkplatz vor der Konzerthalle.

      Lulu will sich gerade auf ihr Fahrrad schwingen, als sie erstarrt. Ohne ersichtlichen Grund ändern die Konzertbesucher - eben noch zu ihren Autos unterwegs - ihren ursprünglich eingeschlagenen Weg und eilen, wie von unsichtbarer Hand gezogen, alle in dieselbe Richtung.

      Es ist, als gäbe es da einen Magneten, der die Menschen unwiderstehlich anzieht. Diejenigen, die ihr Auto gestartet hatten, nehmen sich nicht mal Zeit, den Motor wieder abzustellen, sondern steigen direkt aus und reihen sich in den Menschenstrom ein. Das Ganze geschieht in einem militärischen Gleichschritt, der Lulu einen Schauer über den Rücken jagt.

      Zutiefst erschrocken widersteht Lulu nur mit Mühe dem Drang, ebenfalls ihren Blick in die Richtung zu wenden, in die alle so gebannt marschieren. Sie ahnt, dass sie ansonsten ebenso diesem merkwürdigen Sog erliegen würde.

      Voll damit beschäftigt, ihr Fahrrad durch die einzig freie Lücke Richtung Ausfahrt zu lavieren, übersieht Lulu das von rechts kommende Auto Pedros. Dieser, selbst abgelenkt von dem Chaos auf dem Parkplatz, erblickt Lulu erst in letzter Sekunde. Er reißt das Lenkrad herum, verpasst Lulu nur um Haaresbreite und prallt gegen einen Parkpfosten. Durch den Aufprall schlägt er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Als er verwirrt aufschaut, folgt sein Blick automatisch den Menschenmassen. Ehe Lulu irgendetwas unternehmen kann, steigt Pedro aus seinem Wagen und reiht sich im Gleichschritt in den Menschenzug ein. Das verzweifelte Rufen von Lulu scheint er überhaupt nicht zu hören.

      Lulu ahnt, dass sie Pedro nicht helfen kann, ohne auch in den Sog zu geraten. Schweren Herzens verlässt sie den Parkplatz.

      Doch dort draußen wird es nicht besser. Die ganze Stadt hat sich in Bewegung gesetzt. Und es erscheint Lulu, als wäre sie die Einzige, die vor diesem Sog flüchtet.

      Dem Menschenstrom entkommen, fährt sie durch leer­gefegte Straßen und fühlt sich plötzlich einsam. Traurig setzt sie sich an den Straßenrand und schaut die verlassene, dunkle Gasse entlang. Ob sie doch den Menschen hinterherlaufen sollte, um zu sehen, was sie so anzieht?

      Noch während Lulu diesem Gedanken nachhängt, überfällt sie tiefe Müdigkeit und sie schließt erschöpft die Augen. Kurz vor dem Eindämmern, im Zustand zwischen Wachen und Schlafen, fühlt Lulu sich plötzlich mit einem mächtigen Sog in einer Spirale nach oben gezogen. Dies geschieht in so rasender Geschwindigkeit, dass sie das Bewusstsein verliert.

      2

      Als Lulu zu sich kommt, findet sie sich in einem riesengroßen, hellen Raum wieder. Sie hat das Gefühl, tagelang geschlafen zu haben, so erholt und energiegeladen fühlt sie sich.

      Gebannt schaut sich Lulu um und reißt überrascht die Augen auf: Tausende kleine, spielende Kinder tummeln sich um sie herum.

      Nicht weit von ihr, inmitten der Kinder, entdeckt sie einen Mann, der eine enorme Wärme und Freundlichkeit ausstrahlt. Lulu fühlt sich sofort zu ihm hingezogen.

      Der Mann bahnt sich einen Weg zwischen den ausgelassenen Kindern hindurch. Dabei wendet er sich jedem Kind, an dem er vorbei kommt, mit einem freundlichen Wort, einem Kuss, einem Streicheln über die Wange und warmherzigen Lächeln liebevoll zu.

      Lulu beobachtet ihn dabei genau. Sie schmunzelt, als sich ein kleines Mädchen in seinem vollen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen weißen Haar festkrallt.

      Auf diesen Armen kann er bestimmt einen Haufen Kinder auf einmal tragen, denkt Lulu bei sich, als sie den kräftigen Oberkörper betrachtet.

      Fast ist der Mann bei Lulu angekommen und da sieht sie auch sein Gesicht genauer. Die unzähligen Falten sprechen für ein beträchtliches Alter, doch die strahlenden, völlig ungetrübten Augen lassen das Gegenteil vermuten. Die Bewegungen des Mannes wirken jugendlich, seine Ausstrahlung gelassen.

      Irgendwie zeitlos, sinniert Lulu vor sich hin.

      „Hallo Lulu“, wird sie von ihm begrüßt. Die warmherzige Stimme dringt sofort in Lulus offenes Herz und sie schaut in tiefblaue Augen. Wie das Meer, empfindet Lulu, als sie in seinen Blick eintaucht.

      „Wer bist du?“, fragt sie gespannt.

      „Ich bin Custos, Hüter der verlorenen Kinder“, gibt er Lulu freundlich Auskunft.

      Lulu schaut verblüfft über die Kinderschar und Custos erklärt: „Ich wache solange über diese Kinder, bis sie wieder zurück nach Hause geholt werden.“

      „Wo ist denn ihr Zuhause?“, fragt Lulu mit verwundertem Blick auf die zahlreichen kleinen Wesen, deren Alter Lulu auf drei bis fünf Jahre schätzt.

      „Jedes einzelne Kind hier gehört zu einem ganz bestimmten Menschen. Dort ist eigentlich sein Zuhause. Aber es ist diesem Menschen verloren gegangen und dadurch völlig schutzlos geworden. Ich passe auf jedes Kind auf, bis es von seinem Menschen wieder abgeholt wird. Dazu müssen sich die Menschen allerdings endlich mal auf die Suche nach ihren verlorenen Kindern begeben.“

      Lulu ist erschüttert: „Das heißt, wenn die Menschen ihre Kinder nicht suchen, kommen auch die Kinder nie mehr nach Hause zurück?“

      „Ja, genau so ist es, Lulu.“

      „Und was passiert dann mit diesen Kindern?“, fragt Lulu mit großen Augen. „Wie lange kannst du denn auf sie aufpassen?“

      Custos schaut Lulu jetzt ernst an: „Ich passe auf sie auf, bis sie sterben.“

      Nach kurzem Nachdenken schlussfolgert Lulu mit unbehaglichem Blick auf die Kinderschar: „Das bedeutet, die Kinder können sterben, ohne je wieder nach Hause gekommen zu sein?“

      „So traurig es ist, Lulu, leider ja.“

      „Aber du passt doch auf sie auf! Wieso sterben die Kinder trotzdem?“

      „Sie sterben“, erklärt Custos, „wenn der zu ihnen gehörende Mensch stirbt. Das kann ich nicht verhindern. Ich kann nur so lange auf sie aufpassen, wie der Mensch selber am Leben ist.“ Und als er den erschrockenen Blick Lulus sieht, fährt er fort: „Ja, Lulu, das ist traurig. Deshalb versuche ich ja auch, die Menschen daran zu erinnern, dass es da noch ein Kind gibt, das sie vergessen haben.“

      Lulu kann es nicht so recht fassen: „Heißt das, die Menschen haben ihre Kinder nicht nur verloren, sondern auch noch völlig vergessen? Aber warum?“

      „Am Anfang waren die Menschen noch oft unglücklich und haben ihr Kind gesucht und vermisst. Aber dann sind sie immer tiefer in die Fänge von Ego Puppenspieler geraten. Und der hat dafür gesorgt, dass sie ihre Kinder endgültig aus dem Gedächtnis verlieren.“

      Lulu schaut Custos etwas verständnislos an: „Und wie gelingt es diesem Ego… - wie?“

      „Ego Puppenspieler. Du meinst, wie es ihm gelingt, dass die Menschen ihre Kinder vergessen? Er lenkt sie ab. Du hast ja auch schon gemerkt, dass die Menschen manchmal wie von Sinnen herumeilen und gar nicht zur Ruhe kommen.“

      „Ja!“, ruft Lulu aus. „Das konnte ich noch nie verstehen! Da steckt also dieser Ego Puppenspieler dahinter?“

      Custos nickt. „Ganz genau, er ist es, der die Menschen antreibt, immer noch mehr zu arbeiten, um noch mehr Erfolg und Geld einzuheimsen. Es gefällt ihm ganz und gar nicht, wenn sich die Menschen von Musik, Kunst und Theater inspirieren lassen. Und so treibt er ihnen dies mit allen Mitteln aus.“

      „Aber wie schafft er das?“ Lulu schaut jetzt äußerst gebannt zu Custos, auf dessen Stirn zum ersten Mal Sorgenfalten aufgetaucht sind.

      „Ego Puppenspieler zieht die Menschen immer öfter in SEIN Theater, in welchem ER seine Puppen tanzen lässt. In diesen Theaterstücken werden jene Puppen zu Helden, die erfolgreich sind und denen es durch viel harte Arbeit gelingt, Macht und Geld zu erringen. Ruhm, Macht und Geld machen die Puppenhelden glücklich,