Angelika Schaeuffelen

LULUS MISSION


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Teil von ihr war, scheint sie gleichzeitig völlig ihrer Vitalität beraubt zu sein. Es kommt Lulu so vor, als wäre Veronika nur noch ein Schatten ihrer selbst.

      Die Mutter scheint eine Veränderung an ihrem Kind wahrgenommen zu haben und - plötzlich liebevoll - nimmt sie die Kleine hoch auf ihren Arm. „Jetzt sei noch ein bisschen lieb“, flüstert sie zärtlich und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir gehen ja bald nach Hause und dann darfst du toben.“

      Veronika nickt folgsam. Kein Ton kommt mehr über ihre Lippen, als die Mutter sie wieder auf den Boden stellt, sie an der Hand nimmt und mit ihr zurück an den Tisch zur Großmutter eilt.

      Zutiefst betroffen beobachtet Lulu, wie die kleine Veronika eine halbe Stunde lang brav auf ihrem Stuhl sitzt, ohne einen Muckser von sich zu geben.

      Die Großmutter scheint zufrieden damit. Die Mutter wirft immer mal wieder einen verstohlenen Seitenblick auf ihre Tochter. In diesem Blick erkennt Lulu einerseits eine Genugtuung über den Erfolg ihrer Erziehungsmaßnahme, andererseits aber auch eine leichte Beunruhigung, eine unbestimmte Sorge.

      „Vielleicht habe ich Veronika eben ein bisschen zu hart angepackt“, flüstert sie ihrer Mutter zu.

      Doch diese schüttelt energisch den Kopf: „Ach was, dem kleinen Dickkopf musst du einfach ab und zu den Willen brechen. Sie tanzt dir sonst ein Leben lang auf der Nase herum.“ Und zu Veronika gewandt: „Jetzt schau sie dir an, wie lieb unser Schatz sein kann. Wir gehen jetzt gleich. Magst du unterwegs noch ein Eis, meine Kleine?“

      Veronika nickt, ohne aufzuschauen. Folgsam folgt sie ihrer Mama und Oma zum Auto.

      Nur Lulu weiß, dass soeben etwas Folgenschweres in Veronikas Leben passiert ist. Sie fühlt sich so elend, als hätte sie selbst einen Teil von sich verloren.

      Erschöpft legt Lulu sich auf die Wiese und schließt die Augen. Doch dann fühlt sie sich sanft hochgehoben und spürt die wärmende und wohltuende Nähe von Custos.

      Als Lulu die Augen wieder aufschlägt, sieht sie sein Gesicht über sich. Sie ist zurück in dem Raum mit den vielen Kindern. Neben Custos erkennt sie die kleine Veronika und schlagartig taucht die Erinnerung an das eben Erlebte wieder in ihr auf.

      „Arme Veronika“, seufzt Lulu leise und fügt dann bekümmert hinzu: „Die armen Menschen!“ Über ihr Gesicht hat sich ein Schatten tiefer Traurigkeit gelegt. Sie schaut Custos direkt in die Augen und dieser sieht, dass Lulu auf ihrer kurzen Reise in die Vergangenheit Veronikas nicht nur verstanden hat, wodurch die Menschen ihre Kinder verloren haben, sondern auch, was ein solch schrecklicher Verlust für die Menschen bedeutet.

      Noch immer die folgsame, ihres ursprünglichen Wesens beraubte Veronika vor Augen murmelt Lulu traurig vor sich hin: „Kein Wunder, dass Ego Puppenspieler so ein leichtes Spiel mit den Menschen hat.“

      Custos nimmt Lulu zärtlich in den Arm. Nachdem er sie einige Zeit tröstend gehalten hat, sieht er sie eindringlich an. Lulu hat das Gefühl, dass er bis auf den Grund ihrer Seele schaut.

      „Ich brauche deine Hilfe, Lulu.“

      Als diese ihn erstaunt und fragend ansieht, fährt Custos fort: „Ich möchte dich zurück zu den Menschen schicken, damit du ihnen bestimmte Fragen stellst. Fragen, die sie wieder zu ihrem verlorenen Kind zurückführen. Und es ist außerdem deine Aufgabe, die Menschen so oft wie möglich dazu zu bringen, sich zu entspannen und Zeit zu nehmen, über ihr Dasein nachzudenken.“

      Lulu wird es mulmig zumute. Das scheint ihr alles andere als einfach. Ihre Stimme klingt etwas kleinlaut. „Das heißt, ich soll die Menschen dazu bringen, nicht mehr diesem Ego Puppenspieler zu folgen?“

      Custos Mund umspielt ein Lächeln. „So ist es, Lulu. Es geht allerdings nicht darum, die Menschen gegen ihr Ego aufzubringen, denn sie brauchen ihr Ego. Doch durch die zunehmende Macht des Puppenspielers ist das Ego einfach zu groß geworden. Seine ständig wachsende Gier nach Macht und Anerkennung hat die Intuition der Menschen nahezu völlig verdrängt. Ihr Herz, ihre Gefühle der Freude und der Liebe kommen viel zu kurz. Wie sollen die Menschen in diesem Zustand zu ihren verlorenen Kindern zurückfinden, die sich hier bei mir befinden. Sie verspüren ja nicht einmal mehr Sehnsucht nach ihrem ursprünglichen intuitiven Wesen. Es ist deine Aufgabe, Lulu, in den Menschen diese Sehnsucht wieder zu entfachen. Erinnere sie an ihre Träume, bringe sie zum Lachen oder auch zum Weinen, berühre ihr Herz!“

      Lulu nickt nachdenklich und Custos sieht in ihren Augen, dass sie verstanden hat, worum es ihm geht.

      So spricht er weiter: „Doch wenn du meine Welt verlässt, Lulu, und dich ganz in die Welt der Menschen begibst, verlierst du den direkten Kontakt zu mir. Deshalb wird uns Artemis als Mittlerin zwischen unseren Welten helfen. Du wirst sie gleich kennen lernen.“

      „Artemis“, ruft Custos und Lulus Herz macht vor Freude einen Sprung, als sie eine Eule mit weit ausgebreiteten Flügeln über die Köpfe der Kinder herbeisegeln sieht.

      „Oh, ich liebe Eulen!“, ruft Lulu begeistert, während sich Artemis auf ihrer Schulter niederlässt und liebevoll an ihrem Ohr knabbert.

      Custos lächelt: „Eulen sind ja auch Grenzgänger zwischen den Welten, genau wie du, Lulu.“ Und als er die orangefarbenen Augen der Eule zusammen mit dem orangenen Mantel von Lulu betrachtet, lacht er: „Ihr zwei gebt ein hübsches Bild ab.“

      „Artemis“, murmelt Lulu und streicht ihr sanft über das gelblichbraune, mit einer dunklen Marmorierung durchzogene Gefieder. Artemis hat ihre Federohren aufgerichtet, ein Zeichen ihrer freudigen Erregung. Lulu sieht direkt in ihre Augen und ist völlig eingenommen von dem tiefgründigen Blick der Eule. Wie Lulu selbst, scheint auch Artemis hinter die Kulissen zu schauen. Kein Wunder, dass sich Lulu und die Eule auf Anhieb auf tiefer Ebene verstehen.

      Nachdem Custos die beiden eine Zeitlang beobachtet hat, ergreift er wieder das Wort: „Ich bin froh, dass du Artemis an deiner Seite hast, Lulu, denn deine Aufgabe ist nicht einfach. Vor allem musst du aufpassen, dass du Ego Puppenspieler nicht selbst in die Fänge gerätst. Früher oder später wird er auf dich aufmerksam werden und versuchen, dich einzuwickeln. Er ist sehr schlau und weiß genau, wo er seinen Faden ansetzt. Und du weißt ja, wenn er erst mal bei dir angedockt hat, wirst auch du zu einer seiner Marionetten werden. Also hüte dich davor, dass dir Ego Puppenspieler zu nahe kommt!“

      Lulu wird es bei diesem Gedanken etwas bange: „Woran erkenne ich das denn, ich meine, dass mir Ego Puppenspieler zu nahe rückt?“

      Custos Stimme wird jetzt eindringlich: „Es gibt zwei besonders wichtige Warnzeichen, Lulu: Wenn du anfängst, deiner Intuition nicht mehr zu trauen und wenn dir die Freude des Augenblicks verloren geht. Und achte auf Artemis. Wenn sie nicht mehr bei dir bleiben kann, obwohl du sie gerufen hast, ist dir Ego Puppenspieler bereits gefährlich nah. Also hüte dich, mein Kind. Wenn Artemis deinen Ruf nicht mehr vernimmt, ist es womöglich schon zu spät.“

      Lulu bekommt eine Gänsehaut bei dieser Vorstellung, aber Artemis rückt etwas dichter an ihr Ohr und das macht ihr wieder Mut, sich ihrer Mission zu stellen.

      „Du hast vorhin gesagt, Custos, dass ich den Menschen bestimmte Fragen stellen soll, um sie zu ihrem verlorenen Kind zurückzuführen. Was sind das für Fragen?“

      Custos ist erfreut darüber, wie aufmerksam Lulu ihm zugehört hat: „Ein paar gebe ich dir mit. Aber dir fallen im passenden Augenblick bestimmt auch noch andere Fragen ein, welche die Menschen in ihrem Herzen berühren und den Weg zu ihrem verlorenen Kind öffnen. Ich vertraue da ganz auf deine Intuition. Also, du kannst zum Beispiel fragen:

      Was würdest du verändern, wenn du wüsstest, dass du in einem Jahr stirbst?

      Erfreust du dich an den kleinen Dingen des Lebens?

      In was steckst du die meiste Energie?

      Wie oft am Tag empfindest du Freude? Wann genau passiert das?“

      Lulu geht die Fragen im Geiste noch mal durch, um sich möglichst alle zu behalten. Custos beobachtet sie dabei lächelnd. „Keine Sorge, Artemis wird dich unterstützen. Du musst dir jetzt nicht alle Fragen merken.

      Ich