aushielt und beschloss, eine Nacht darüber zu schlafen. Ich sprang also auf, verwahrte die von Vincey mir übergebenen Schlüssel und den Brief in meiner Dokumentenmappe, sperrte den eisernen Kasten in einen Reisekoffer, ging zu Bett und schlief rasch ein.
Mir schien, als hätte ich erst wenige Minuten geschlafen, als mich jemand weckte, indem er meinen Namen rief. Ich fuhr auf und rieb mir die Augen - es war heller Tag, acht Uhr schon.
»Was ist denn mit dir los, John?«, fragte ich den Collegediener, der für Vincey und mich die Aufwartung besorgte. »Du blickst ja drein, als hättest du ein Gespenst gesehen!«
»Ja, Sir, das habe ich«, erwiderte er, »...noch viel schlimmer, ich habe einen Toten gesehen. Soeben wollte ich Mr. Vincey wie immer wecken, und er liegt kalt und tot in seinem Bett!«
2. Die Jahre vergehen
Der Tod des armen Vincey rief auf dem College natürlich große Aufregung hervor; doch da man wusste, dass er sehr krank gewesen war, und der Arzt ohne Bedenken den Totenschein ausstellte, leitete man keine weitere Untersuchung ein. Man war damals in dieser Hinsicht nicht so genau wie heute; ja man empfand allgemein eine gewisse Abneigung dagegen, da sie meistens einen Skandal hervorrief. Unter diesen Umständen und vor allem, da niemand Fragen an mich stellte, fühlte ich mich nicht verpflichtet, über die Unterredung in der Nacht vor Vinceys Tod nähere Angaben zu machen, und sagte lediglich, er habe mich - wie so oft - nur kurz besucht. Am Tage der Beerdigung erschien ein Anwalt aus London, folgte den sterblichen Überresten meines Freundes zum Grab und reiste dann mit seinen sämtlichen Papieren und Habseligkeiten wieder ab - ausgenommen natürlich den Eisenkasten, den Vincey mir übergeben hatte. Eine Woche lang hörte ich nichts von der Sache, was mir ganz recht war, denn ich stand ja vor meinem Examen, ein Umstand, der mich auch daran gehindert hatte, am Begräbnis teilzunehmen oder mit dem Anwalt zu sprechen.
Endlich war das Examen überstanden, und ich ging nach Hause und sank mit dem befriedigenden Gefühl, recht gut abgeschnitten zu haben, in einen Sessel.
Doch bald schon wandten sich meine Gedanken, befreit von dem Druck der letzten Tage, den Geschehnissen in der Nacht vor Vinceys Tod zu, und wieder fragte ich mich, was das alles wohl zu bedeuten hatte, ob ich wohl noch irgendetwas von dieser Angelegenheit hören würde, und wenn nicht, was ich dann mit diesem merkwürdigen Eisenkasten anfangen sollte. So saß ich da und sinnierte und grübelte, bis mir von alldem ganz wirr im Kopf wurde: der geheimnisvolle mitternächtliche Besuch, die so schnell bewahrheitete Todesprophezeiung, der feierliche Eid, den ich geleistet hatte, und Vinceys Andeutung, er werde in einer anderen Welt Rechenschaft von mir verlangen. Hatte er womöglich Selbstmord begangen? Es sah fast so aus. Und von welcher Reise hatte er gesprochen? Das Ganze war so unheimlich, dass ich, ansonsten keineswegs nervös oder allzu leicht durch Dinge, welche die Grenzen des Natürlichen zu überschreiten scheinen, aus der Fassung zu bringen, beinahe Angst bekam und zu wünschen begann, ich hätte nichts damit zu tun. Und wieviel mehr wünsche ich mir dies heute, mehr als zwanzig Jahre danach!
Wie ich so saß und grübelte, klopfte es an der Tür, und ein Brief in einem großen blauen Kuvert wurde mir übergeben. Ich sah auf den ersten Blick, dass der Brief von einem Anwalt stammte, und eine innere Stimme sagte mir, dass er mit meiner Vormundschaft zusammenhing. Der Brief, der heute noch in meinem Besitz ist, lautete wie folgt:
»Sehr geehrter Herr!
Unser Klient, der am 9. d. M. in Cambridge verstorbene Mr. L. Vincey, hat ein Testament hinterlassen, dessen Vollstrecker wir sind und von dem wir eine Abschrift beifügen. Auf Grund dieses Testamentes erhalten Sie auf Lebenszeit die Hälfte des von dem Verstorbenen hinterlassenen und in Staatsanleihen angelegten Vermögens unter der Voraussetzung, dass Sie die Vormundschaft über seinen einzigen, derzeit fünf Jahre alten Sohn Leo Vincey übernehmen. Hätten wir nicht selbst entsprechend Mr. Vinceys klaren und präzisen Anweisungen das fragliche Dokument aufgesetzt und hätte er uns nicht erklärt, für seinen Entschluss sehr gute Gründe zu haben, so erschienen uns die darin enthaltenen Bestimmungen derart ungewöhnlich, dass wir uns verpflichtet fühlen würden, das Vormundschaftsgericht darauf aufmerksam zu machen, um eventuell die Zurechnungsfähigkeit des Erblassers nachprüfen zu lassen. Da uns jedoch der Erblasser als eine Persönlichkeit von klarstem Verstand und Scharfsinn bekannt war und wir wissen, dass er keine Verwandten besitzt, die er mit der Vormundschaft über das Kind hätte betrauen können, nehmen wir von diesem Schritt Abstand.
In Erwartung Ihrer Instruktionen bezüglich der Übergabe des Kindes und der Zahlung der Ihnen zustehenden Dividenden zeichnen wir
hochachtungsvoll
Geoffrey und Jordan.«
Ich legte den Brief hin und überflog das Testament, welches, nach seiner völligen Unverständlichkeit zu schließen, gemäß striktesten juristischen Prinzipien abgefasst schien. Immerhin konnte ich daraus entnehmen, dass es genau das enthielt, was mir mein Freund vor seinem Tode gesagt hatte. Also war es doch wahr. Ich musste den Jungen zu mir nehmen. Plötzlich fiel mir der Brief ein, den mir Vincey zusammen mit dem Kasten übergeben hatte. Ich holte und öffnete ihn. Er enthielt lediglich die mir bereits mündlich gegebene Anweisung, den Kasten an Leos fünfundzwanzigstem Geburtstag zu öffnen, sowie Richtlinien für die Erziehung des Jungen, die Griechisch, höhere Mathematik und Arabisch umfassen sollte. Am Schluss stand eine Nachschrift des Inhalts, dass ich, falls der Junge vor seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr starb, den Kasten öffnen und entsprechend den darin enthaltenen Informationen handeln solle, falls ich dies für richtig hielte. Wenn nicht, sollte ich den Inhalt vernichten, ihn jedoch auf keinen Fall in fremde Hände gelangen lassen.
Da dieser Brief mir nichts Neues sagte und keinerlei Anlass bot, das meinem Freund gegebene Versprechen nicht zu erfüllen, blieb mir nur eins übrig - den Herren Geoffrey und Jordan zu schreiben, dass ich zur Übernahme der Vormundschaft bereit sei, und zwar in zehn Tagen. Darauf begab ich mich ins Sekretariat des Colleges, erzählte den Herren dort von der Geschichte so viel, wie ich für nötig hielt, und konnte sie mit einiger Mühe dazu überreden, ein Auge zuzudrücken und mir, falls ich eine Fellowship erhielt, zu gestatten, das Kind zu mir zu nehmen. Dies wurde mir unter der Bedingung bewilligt, dass ich mein Logis im College aufgab und mir anderweitig eine Wohnung suchte. Dies tat ich, und es gelang mir, ganz in der Nähe des Colleges eine meinen Vorstellungen entsprechende Wohnung zu finden. Nun hieß es, sich nach einer Bedienung umzusehen, und ich fasste in dieser Hinsicht sogleich einen festen Entschluss - nämlich keine weibliche Person zu engagieren, die mich tyrannisieren und mir die Zuneigung des Jungen stehlen würde. Schließlich war er alt genug, um ohne weibliche Betreuung auszukommen. Ich begab mich deshalb auf die Suche nach einem geeigneten Diener und machte schließlich einen sehr ordentlichen, kräftigen jungen Mann ausfindig, der Knecht in einem Reitstall war. Er erklärte mir, dass er zusammen mit sechzehn Geschwistern aufgewachsen sei, deshalb mit Kindern gut umzugehen verstünde und gern bereit sei, Leo in seine Obhut zu nehmen, sobald er einträfe. Nachdem ich sodann den Eisenkasten in die Stadt gebracht und in meiner Bank deponiert hatte, kaufte ich einige Bücher über die Pflege und Erziehung von Kindern, die ich zuerst allein studierte und dann Job - so hieß der junge Mann - vorlas, und wartete.
Endlich traf das Kind in Begleitung einer älteren Person ein, die beim Abschied von ihm bitterlich weinte. Es war in der Tat ein schöner Junge! Seine Augen waren grau, seine Stirne breit und sein Gesicht, schon in diesem frühen Alter, fein geschnitten wie eine Kamee. Das reizendste an ihm jedoch war sein Haar, das in dichten, golden schimmernden Locken seinen wohlgeformten Kopf bedeckte. Als die Bonne sich schließlich von ihm losriss, weinte auch er ein wenig. Nie werde ich dieses Bild vergessen. Die Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster herein auf seine goldenen Locken, während er so dastand, die kleine Faust auf das eine Auge gepresst und mit dem anderen uns musternd. Ich streckte ihm, in meinem Sessel sitzend, die Hand entgegen, während Job in seiner Ecke einen gackernden Laut von sich gab, von dem er aus Erfahrung wusste, dass er auf Kinder beruhigend und Vertrauen einflößend wirkte, und dazu schob er ein überaus scheußliches Holzpferd auf und ab. Dies dauerte ein paar Minuten; dann streckte der kleine Bursche plötzlich seine Ärmchen aus und lief zu mir.
»Dich hab' ich lieb«, sagte er, »du bist hässlich, aber gut.«
Zehn Minuten später aß er