Rainer Garbe

Es hat noch draußen


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Sie trugen Parka oder Kampfjacken und verbrachten die Pausen in der Raucherecke, während er, Klaus und die anderen zum Bäcker gingen oder Fußball spielten. Der Respekt ihnen gegenüber reduzierte sich erst auf ein normales Maß oder schlug gar zu Bergers Gunsten um, als er sie später auf den Abiturtreffen wiedersah.

      Die Eimer stellt er auf die Terrasse, die Milchkartons und Plastiktüten kommen in den Müllsack. Dann macht er sich an das vollgepackte Brett. Eine Menge Apotheker-Hefte und alte Ausgaben der „Wuppertaler Rundschau“ holt er aus den Kartons. Plötzlich durchbricht ein kurzes Klappern die Stille, gefolgt von einem platschenden Geräusch unten im Flur. Berger erschrickt, doch im nächsten Moment realisiert er: die Post. Der Briefträger hat sie durch die Klappe in der Tür geworfen. Ein Brief von der Bank, ein Stapel in Folie verschweißter Supermarkt-Prospekte, ein Reiseangebot und ein Faltblatt von der Telekom. Bis auf den Bank-Brief wirft er alles auf den Haufen hinter der Haustür.

      In einem der Kartons im Bad liegt ein kleines Portemonnaie in Herzform. Er öffnet den Reißverschluss, findet einen Schein und ein paar Münzen. 21 Euro. Kaffee- und Kuchengeld für die nächsten Tage, Mutti gibt einen aus.

      Dann zieht er einen Umschlag mit Fotos aus dem Karton. Die Mutter beim Tennis mit anderen Frauen, die Berger nicht kennt. Bei einem Bild muss er mehrmals hinschauen: ein Doppel mit einer Bekannten, die beleibte Mutter im Vordergrund. Um schlanker zu wirken in der ohnehin weit geschnittenen, selbst genähten Hose und Jacke, hat sie auf dem Foto vom Oberteil abwärts entlang der Hose einen millimeterdünnen Streifen Papier geklebt, der eine ähnliche Farbe hat wie der Hintergrund der Tennishalle.

      Wieder so ein Versuch, die Wirklichkeit zu beschönigen, aber von diesem Verschlankungsversuch ist er gerührt. Er fährt mit einem Finger über die erhöhte Stelle. Eine handwerkliche Feinarbeit – ihre Version von Photoshop. Das ist natürlich kein Müll. Er steckt die Umschläge in einen der vom Bruder bereitgestellten Kartons auf dem Küchentisch, die schon bis oben voll sind mit Fotos, Briefen und Zetteln mit handgeschriebenen Notizen. In einem Zeitungsartikel hat Berger mal gelesen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Sammeln von Dingen und der Leibesfülle der betreffenden Person. Nicht loslassen können lautete die Deutung. Das traf ja bei der Mutter zu, auch in körperlicher Hinsicht. Die ganzen Jahre, die Berger sie erlebt hat, hatte sie eine Figur, für die die Modewelt die Bezeichnung „vollschlank“ erfunden hat.

      Sein Magen knurrt. Er fährt die 300 Meter zum Langerfelder Markt und bestellt im Eiscafé „Zum alten Forsthaus“ Milchkaffee und Käsekuchen, der überraschend gut schmeckt. Hier ist offenbar seit den 70er-Jahren nichts verändert worden. Nach ein, zwei Bissen schaut er durch die Spitzengardine des Fensters. In ihm regt sich Widerwille gegen diese Arbeit. Der Tod ist zu spüren im Haus seiner Eltern, auch wenn sie nicht dort gestorben sind. Den eigenen Kindern das ganze Haus vollgemüllt zu hinterlassen – auf Berger wirkt das nicht nur hilflos. Liegt darin nicht auch eine gewisse Bösartigkeit?

      Wir sollen jetzt die Dinge ausräumen, mit denen du nicht fertig geworden bist. Warum habe ich das nicht mal angesprochen, als du noch gelebt hast. (Wohl, weil ich den Mut nicht hatte.) Aber bei Kritik von uns Kindern warst du immer sofort eingeschnappt. So haben wir das irgendwann gelassen, weil du dich dann wie ein kleines Mädchen benommen hast. Vielleicht hättest du auch geantwortet: Aber mein mühsam erspartes Geld nehmt Ihr später wohl gerne, was?

      Helmut hat einmal versucht, sie zum Ausmisten zu bewegen; das war etwa ein Jahr vor Ihrem Tod. Doch auf seinen Vorschlag, einen einzigen Stapel alter Zeitungen zum Papiercontainer mitzunehmen, fing sie zu weinen an. Er ließ den Stapel an seinem Platz, machte ihr aber deutlich, sie nicht mehr zu besuchen, da er es hier nicht mehr aushalte.

      Berger wird klar: Mit der Arbeit im Haus hat er nun die Möglichkeit, ein letztes Mal zurückzugehen in die eigene Jugend und Kindheit – und mit der Vergangenheit aufzuräumen. Vielleicht findet er ja auch noch etwas Überraschendes oder Liebgewonnenes oder längst Vergessenes von damals.

      Wie ein Goldgräber kommt er sich vor, mit der Hoffnung, die ganze Arbeit werde mit ein paar wertvollen Funden belohnt. Am späten Nachmittag hat er das Brett über der Badewanne geräumt und in den Flur gestellt. Leer ist das Bad noch nicht, aber Land in Sicht. Den Rest hier mache ich morgen, beschließt er.

      Die Badewanne hat er seit seiner Kindheit nicht mehr leer gesehen. Berger erinnert sich, dass sie damals einige Zeit sogar von einer alten Holztür komplett bedeckt wurde. Irgendwann entdeckte einer der Geschwister, dass die Mutter in der Wanne die Weihnachtsgeschenke aufbewahrte. Dann konnte man im Sitzen auf der Klobrille die Tür etwas anheben und schon mal hoffen oder tippen, für wen wohl welche Sache gedacht war. Zum Duschen aber war in der Wanne kein Platz. Dazu hätte man die ganzen Zeitungen, die Stapel Klopapier und dann die schwere Tür wegräumen und außerdem den Boiler aufheizen lassen müssen, was eine gute halbe Stunde brauchte. Da ging er lieber den „Steilweg“ hinunter zur Tennisanlage von Betzberg. Im Winter, wenn eine Traglufthalle über den ersten der drei Plätze gespannt war und nur zum stündlichen Wechsel jemand in den Umkleideraum kam, duschte er dort einmal die Woche. Den knapp zehnminütigen Fußweg legte er so, dass er gegen „Zwanzig nach“ dort war, also einige Minuten Ruhe zum Duschen hatte – wobei er selten die Möglichkeit ausließ, sich dabei selbst zu befriedigen. Diese vorübergehende Flucht von zuhause, die Stunde des Alleinseins und die Beschäftigung mit dem eigenen Körper genoss er, auch wenn er dort immer unter Zeitdruck stand.

      Auf der Spiegelablage neben der Badewanne entdeckt er eine Flasche „DuschDas“. Das war lange Jahre sein Lieblings-Duschgel. Aber nicht diese rosafarbene Flasche mit dem nach Lavendel riechenden Zeug, sondern das nach Zitrone duftende in der blauen Flasche. Die sah aus wie ein kleiner Atommeiler: längs geriffelt und mit einem schräg aufgesetzten, weißen, halbkreisförmigen Drehverschluss. Sofort fällt ihm der frische Geruch des Gels wieder ein, das genauso blau wie die Flasche war – einer der Düfte, der sein Gedächtnis über viele Jahre am stärksten besetzte. Zur Flasche gab es eine ebenfalls blaue Kordel, die in einem kleinen Haken an der Rückseite eingeklinkt werden konnte, zum Aufhängen in der Dusche. Beim Schulsport war dieses Duschgel für Berger und die Jungs seiner Clique eine Art Statussymbol, auch weil die anderen noch Seife benutzten. In den 80er-Jahren verschwand die Flasche dann irgendwann aus den Regalen und musste einer größeren weißen mit Klebeetikett weichen, die es noch immer gibt, ihm aber nicht gefällt, da sie ganz ein Produkt des irrsinnigen allgemeinen Schlankheitstrends ist. Die Flasche auf der Spiegelablage würde er natürlich aufbewahren, wenn sie blau wäre, aber rosa – weg damit. Vielleicht entdeckt er noch etwas Überraschendes, als Entschädigung für den Tag und die Rückenschmerzen – ein Mitbringsel aus seiner alten Heimat für seine neue, Hamburg. Also nochmal in sein Schlafzimmer.

      Der flache Karton mit dem Geschenkpapier stand schon im Schrank, als er ein kleiner Junge war. Während andere, etwa Helmuts Kinder, Weihnachten bei der Bescherung voller Spannung das Papier aufrissen, fingerte die Mutter minutenlang an den Klebestreifen herum, um das Papier zu schonen: Das kann man noch brauchen fürs nächste Jahr! Berger nimmt kleine Stapel heraus und lässt sie nach und nach in einen Müllsack fallen. Wie die Jahresringe eines Baums liegt das Papier im Karton: ganz oben im aktuellen Stil – das könnte vom letzten Mal sein – bis in die 50er-Jahre zurück. Das letzte Stück legt er in das obere Fach des Schranks, das er auf einem Zettel mit „Aufheben“ beschriftet hat. Da sind schon einige Bücher, Wecker, Feuerzeuge und eine Tüte voller Regenschirme deponiert. Unter seinem Bett zieht er eine schmale Schublade voller Klopapierrollen hervor. Was diesen Vorrat anging, hätte sie noch einige Jahre leben können. Als er die Schublade zurückschiebt, erkennt er daneben den Nachttopf aus seinen Kindertagen. Dieser weiße Emailletopf mit Henkel – er als Zwei- oder Dreijähriger mit üppigen weißen Locken in der Küche auf diesem Topf sitzend, mit keck-fragendem Blick zum Vater schauend, der im Türrahmen steht und auf den Auslöser einer Fotokamera drückt (die Mutter sitzt auf ihrem Stammplatz am Küchentisch). Das Foto gibt es noch, seit Jahren liegt es in seiner Bilderkiste.

      Das muss jetzt ... Berger streicht über den Rand des Topfs, wo an einer Stelle ein Stück Emaille abgeplatzt ist ... bald 45 Jahre her sein. Wahrscheinlich ist das überhaupt die erste Situation in meinem Leben, an die ich mich erinnern kann.

      Sein Blick fällt