Anatol Flug

Aufwachstory


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sehr einfach, den Job zu behalten, denn man traf jeden Sommer dieselben Arbeiter wieder. – Aber nicht mehr mit mir. Ein ganzes Studienjahr lag vor mir, um einen neuen Job zu suchen.

      Ich hatte mich bis zu einem gewissen Grad schon damit abgefunden, ein einsamer Mensch zu bleiben. Gut, ich war nicht der Einzige an der Uni, der keine Beziehung hatte, aber ich hatte es nicht mal geschafft, unter den Kommiliton*innen Freund*innen zu finden, mit denen einen mehr verband, als nur zwischen den Vorlesungen ins Kaffeehaus oder abends mal ins Kino oder Theater zu gehen. Mangels Anschluss für eine Reise drängte es sich auf, den ganzen Sommer zu arbeiten, um wenigstens für das nächste Studienjahr wieder ein Minimum an Geld zu haben.

      Aber als das Studienjahr im Oktober begonnen hatte, merkte ich, dass ich es diesmal wohl nicht schaffen würde, nach dem Abstumpfungsprozess von drei Monaten Fließbandarbeit wieder übergangslos an die Uni zu wechseln. Dass ich müde war und nicht gerüstet für einen langen dunklen Winter. Und dieser Winter versprach auch, noch dunkler zu werden als all die anderen zuvor. Zu Beginn des Jahres, nach Bekanntwerden der Entdeckung im Meteoritenschwarm „Kronos“ waren Aufruhr und Enthusiasmus durch die ganze Welt gegangen. Es war plötzlich vorstellbar, dass sich wirklich alles ändern, die Welt nochmal eine ganz andere werden könnte. Umso unglaublicher und entmutigender war es, dass schon ein halbes Jahr später alles wieder verflogen war.

      Um zu all dem noch etwas Distanz zu gewinnen, beschloss ich also, doch noch, und mangels Anschluss eben allein zu verreisen. Während die Student*innen in Jus oder Medizin gleich am ersten Tag des Semesters wieder mit dem Auswendiglernen beginnen mussten, gab es in den anders orientierten Geisteswissenschaften noch so eine praktisch geheime freie Woche – man meldete sich Anfang Oktober für die Vorlesungen an, und die meisten begannen doch erst frühestens um den 10. Oktober, und diese Woche dazwischen wollte ich nützen, um noch ein wenig Sonne zu tanken und das Meer zu genießen.

      Was das Wetter betraf, war in diesem Jahr das spanische Festland nicht mehr sicher genug, und so entschied ich mich für Teneriffa. Na ja, Entscheidungen dieser Art waren bei mir immer so eine Sache. Natürlich hatte sich nur ein Teil von mir mit der Einsamkeit abgefunden. Aber letzten Endes wollte ich mich nicht verstecken, nicht den kilometerlangen einsamen Strand, sondern in eine lebendige und gut besuchte Destination, an der man doch auch jemanden kennenlernen konnte. Wenn es dann aber zur konkreten Entscheidung über einen Ort kam und die Atmosphäre einer Hotelanlage, in der Animator*innen den gelangweilten oder von ihren Kleinkindern genervten Gästen die Zeit bis zur nächsten Mahlzeit vertrieben, ihre Schatten vorauswarf, entstanden im letzten Augenblick doch wieder einschneidende Verschiebungen. Im konkreten Fall sahen sie so aus, dass ich nur zwei Tage in Teneriffa selbst verbrachte – in einer Pension im Zentrum der Hauptstadt – und für die restlichen fünf Tage auf El Hierro weiter reiste, die im äußersten Südwesten gelegene und unbekannteste der kanarischen Inseln.

       [2]

      In Agniste, dem Ort am südlichsten Zipfel, hatte ich ein Zimmer bei ehemaligen deutschen Aussteiger*innen. Sie lebten mittlerweile in einem mittelgroßen Wohnhaus, und was aussah wie eine hölzerne Badehütte, in der sie wohl in den 80er Jahren ihre Ferien verbracht hatten, vermieteten sie jetzt an Tourist*innen. Der Atlantik war wunderbar malerisch, hatte aber auch etwas Bedrohliches. Am äußersten Zipfel der äußersten Insel war das Gefühl, wie auf einem Schiff dem Ozean direkt ausgeliefert zu sein.

      Der kleine Sandstrand befand sich auch in respektvoller Entfernung von den Wellengängen des Atlantiks – durch die lange Kaimauer des Hafens vom Ozean weitgehend getrennt und zusätzlich noch hinter der Ankerstelle für die kleinen Fischerboote gelegen.

      Mittags war es in der Sonne noch richtig heiß. Ich hatte mich für ein paar Minuten in den Sand gelegt, um mich richtig aufzuheizen, bevor ich ins Wasser ging. Zwei kleine Mädchen liefen an mir vorbei. Sie waren vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt und mussten hier drei kleinere Kinder betreuen. Sie schienen Übung darin zu haben, hielten die drei Kleinen nur von wirklich gefährlichen Unternehmungen ab und ließen ihnen ansonsten ihre Freiheiten. Die Eltern waren nicht zu sehen. In den Felsen etwas weiter oben waren aber einige Plätze mit Liegestühlen eingerichtet und es war gut möglich, dass die Erwachsenen ihre Kinder von dort aus im Auge hatten.

      Ich hielt es in der heißen Sonne nicht mehr aus. Ein wenig benommen stand ich auf und ging in Richtung Meer. Das Wasser war angenehm kühl, der Boden nicht steil abfallend, aber mit ein paar kräftigen Schritten landete ich bald in etwas tieferem Wasser und sobald es mir über die Badehose auf den Bauch schwappte, ließ ich mich nach vorne gleiten und begann zu schwimmen. Der schönste Moment: den überhitzten Kopf ins kühle Wasser, mit geschlossenen Augen ein paar Tempi zu tauchen. Die Benommenheit war gänzlich verflogen. Ich kraulte so schnell ich konnte, nach ein paar Minuten war ich völlig erschöpft. Ich drehte mich auf den Rücken, streckte die Hände seitlich aus, Handflächen nach oben. Ich bog den Rücken ein wenig durch und legte den Kopf etwas zurück. Ganz langsame Bewegungen mit den Füßen genügten, um nicht unterzugehen. Das Wasser ging über die Ohren, zu hören nur das gedämpfte Grundrauschen des Ozeans.

      *

      Ich drifte. Am Anfang hatte es mich nicht weiter beunruhigt, dass ich aufgewacht war ohne irgendwelche Anhaltspunkte in Zeit und Raum, oder in meinem Leben. Und dann war ja auch sehr bald diese Erinnerung aufgetaucht, an den nächtlichen Diebstahl, die Bedrohung, den Nachbarn mit der Peitsche. Aber das hatte sich nicht weiter verdichtet und das anfängliche Gefühl, Boden unter den Füßen zu gewinnen, war sehr schnell gewissen Zweifeln gewichen. Und einiges war eigenartig an meiner Situation: gar nichts sehen zu können im Dunkel, nicht mal die eigene Hand vor Augen. Und dieses ständige Gefühl, eben nicht am nächtlichen Strand zu liegen, auf einem festen Sandboden, sondern zu schweben oder zu fliegen.

      Und ich nichts Besseres zu tun, als mich in dieser Geschichte zu verfangen. Su war der Anhaltspunkt gewesen, der Grund, warum ich hierher zurückging in meiner Erinnerung. Alles andere – fast schon an dem Punkt zu sein, mich erinnern zu können, was ich in den letzten Tagen gemacht habe und wo ich bin – ist wieder verflogen, wie in Nichts aufgelöst.

      Gut, ich beruhige mich schon wieder. Das ist jedenfalls bemerkenswert, dass ich sehr entspannt bin, seit ich hier aufgewacht bin. Es gäbe genügend Anlässe, aus denen ich früher in Panik verfallen wäre – die undurchdringliche Dunkelheit; dass ich mich bis jetzt noch nicht aufgerafft habe, meine Hände zu bewegen; das Gefühl manchmal beim Atmen, dass nur wenige Zentimeter von meinem Mund entfernt etwas ist, an dem mein Atem abprallt und dann wieder auf meinem Gesicht zu spüren ist. Aber dann, immer wenn ich beginne, mir darüber Gedanken zu machen, tritt doch vorher ein Gefühl totaler körperlicher Entspannung ein, dem bessere Laune und mehr Optimismus folgen. Und es gibt ohnehin keinen anderen Weg, als dieser Geschichte weiter zu folgen, und irgendwann, hoffentlich sehr bald, führt sie mich zu Su.

      *

      Das Dorf, in dem ich hier gelandet war, stellte sich recht bald als sehr langweilig heraus. Es hatte wohl einen Ruf als Taucher*innenparadies und war entsprechend mit Sauerstoffflaschen schleppenden Leuten in schwarzen Gummianzügen bevölkert. Mehr Sport als Gesellschaftsleben, überall Fachdiskussionen, und so hatte ich es wohl wieder mal geschafft, nicht weit weg vom Highlife einer großen Urlaubsregion an einem Ort zu landen, der für einen Single keine wie immer gearteten Anschlussmöglichkeiten bot. Auch waren die Tage schon kürzer und die früh einbrechende Dunkelheit versetzte mich vollends in eine melancholische Stimmung.

      Nur an einem Abend wurde die Tristesse durchbrochen. Schon am Nachmittag war im gesamten Dorf der Strom ausgefallen. Die Vermutung war, dass es im regionalen Umspannwerk ein Problem gab, man wusste nichts Genaues und das Gerücht begann die Runde zu machen, dass es auch durchaus 24 Stunden dauern könne, bis wieder Strom da sei. Mit nahendem Einbruch der Dunkelheit war eine zunehmende leichte Spannung zu spüren.

       [3]

      Es waren ungewöhnlich viele Leute auf der Straße. Einige wollten wohl nicht gleich den ganzen Abend zu Hause bzw. in ihren Zimmern oder Apartments bleiben mit der Aussicht, die ganze Zeit im Dunkeln oder bestenfalls im Kerzenschein zu sitzen. Die Öffentlichkeit hatte in dieser Situation aber auch etwas Anziehendes, man fühlte