Anatol Flug

Aufwachstory


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zum Eindruck einer Kamerafahrt. Ich ging weiter.

      *

      Dieses Gefühl, zu schweben oder zu fliegen, begleitet mich ohne Unterbrechung, schon seit ich aufgewacht bin. Je länger es andauert, umso besser wirkt es sich auf mein Befinden aus. Ich bin total entspannt. Ich versuche, mich auf meinen Rücken zu konzentrieren, zu fühlen, worauf ich liege. Es sind nur Andeutungen zu spüren von etwas, das ganz unendlich weiche Rollen sein könnten, auf denen ich liege. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein, weil ich mich erst an den Gedanken gewöhnen muss, dass ich wirklich einfach schweben könnte.

      Auch die Temperatur ist perfekt. Ich liege ohne mich zu bewegen und es ist weder kalt noch heiß. Ich beginne mit meiner linken Hand, an meinem Körper nach Kleidung zu tasten. Die Handfläche landet seitlich auf meinem nackten Oberschenkel. Ich versuche es weiter oben und ertaste einen angenehm elastischen Stoff. Ich lasse die Hand weiter nach unten gleiten – offensichtlich habe ich ein Shirt an, aber vom Nabel abwärts dürfte ich nackt sein. Auf meinem Penis ertaste ich eine Art von Katheter. Er fühlt sich angenehm an – wohl mit einer Art Gleitcreme –, was verantwortlich ist für eine anhaltende leichte Erektion.

      Mein Körper ist bestens versorgt. Ich weiß nicht genau, was meine Situation ist und wo ich mich befinde. Aber ich weiß, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Alles wird gut. Ich höre auf, nachzuforschen, ich drifte wieder weg und folge weiter meiner Vergangenheit. Ich möchte zu Su.

      *

      Nach dem nächsten Hügel konnte ich schon die Punta X sehen, einen etwas größeren Hügel direkt am Meer. Spätestens dort war ich immer ungekehrt und hatte den Rückweg angetreten. Diesmal ging ich noch weiter, getragen von der Musik.

      Plötzlich schien es mir, als würde ich durch die Musik hindurch ein Rufen hören. Ich blieb stehen, drehte mich um und sah tatsächlich in einiger Entfernung eine Gestalt aus Richtung Meer näher kommen.

      Gerade aus dieser Richtung hätte ich niemanden erwartet. Ich war in den letzten Tagen hier nicht nur wegen der Einsamkeit in der bizarren Landschaft gewandert, sondern auch mit ein wenig Hoffnung, doch noch einen Badeplatz direkt am offenen Meer zu finden. Und an der Stelle hier hatte ich immer die Hoffnung aufgegeben. Die Punta X fiel zum Meer hin relativ steil ab. Auf festem Untergrund hätte man zwar noch leicht gehen können, aber mit dem Geröll schien das sehr mühsam und auch mit der Gefahr verbunden, ins Rutschen zu kommen und dann den Hügel hinabzuschlittern.

      Die Gestalt wirkte müde und schien auch schwer zu hinken. Als sie sah, dass ich mich umgedreht hatte, blieb sie stehen und wedelte wild mit den Armen. Ich ging also los in ihre Richtung und sie setzte sich auch wieder in Bewegung.

       [5]

      Es war offensichtlich eine eher kleine zierliche Frau. Sie schien barfuß und nur mit einem Bikini bekleidet zu sein. Als ich näher kam, sah ich, dass ihre Füße und Beine blutig waren, ebenso ihre Hände und die Unterarme, die sie etwas seitlich vom Körper weghielt.

      Ich hatte erwartet, dass sie sich, sobald wir uns erreicht hatten, auf den Boden sinken lassen oder zu weinen beginne würde. Nichts dergleichen. Sie blieb stehen, hielt weiter ihre Arme ein wenig zur Seite, um schmerzhafte Berührungen mit dem Rumpf zu vermeiden, und begann in wildem Tempo zu reden. Ich konnte kein Wort verstehen. Erwartet hatte ich eine asiatische Sprache, oder vielleicht Englisch. Die Frau schien aber Französisch zu sprechen. Ich bedeutete ihr mit den Händen, dass sie kurz stoppen sollte und erklärte stotternd, dass ich nur äußerst schlecht Französisch spreche, und sie das Ganze bitte nochmal sehr langsam sagen sollte.

      Ich verstand nur, dass sie von einem Freund oder einer Freundin sprach, einen chinesischen Namen, und „tout de suite“, also „sofort“. Ich wusste nicht recht, was „tout de suite“ geschehen sollte, aber wenn man ihren Zustand betrachtete, konnte es auf jeden Fall nicht falsch sein, einen Rettungsdienst zu rufen. Auf der Batterieanzeige meines Handys war gerade noch die Andeutung eines dünnen Strichs zu erkennen. Ich wählte 112, eine Frau hob ab und ich war mit der nächsten Sprachkatastrophe konfrontiert. Aber da wir gerade bei der Punta X standen, war die Erklärung sehr einfach und sogar mit meinen wenigen Brocken Spanisch zu bewältigen: Wir waren bei der Punta X, eine Person verletzt und brauchten dringend Hilfe. Die Telefonistin begann mit einer Rückfrage, da brach das Gespräch ab, der Akku war leer. Als die verletzte Frau hier sah, dass ich zu telefonieren aufhörte, sah sie mich entsetzt an, ihre Stimme war wütend und sie überhäufte mich wohl gerade mit französischen Vorhaltungen und Beschimpfungen. Sie hatte mein spanisches Gestottere verstanden und fand es offensichtlich in keinster Weise ausreichend, nur einen Krankentransport hierher anzufordern.

      Ich hielt ihr das Display des Handys hin und bedeutete mit unmissverständlicher Geste, dass der Akku leer war. Jetzt war es so weit, dass sie sich zu Boden sinken ließ. Sie setzte sich einfach ins Geröll und ließ ermüdet den Kopf hängen. Ich holte die Wasserflasche aus meinem Rucksack und gab sie ihr, zusammen mit dem Handtuch aus meinen Badesachen. Sie setzte kurz dazu an, sich das Handtuch über die Schultern zu legen, überlegte es sich dann anders, wusste aber wohl nicht recht, was sie damit tun sollte und hielt es gedankenverloren in der linken Hand. Ich setzte mich zu ihr auf den Boden. Sie hatte keineswegs wie eine Verdurstende gewirkt, war wohl auch noch nicht lange durch die Lavawüste gegangen, aber das Wasser erfrischte sie merkbar. Ich erhob mich kurz vom Platz neben ihr, setzte mich ihr gegenüber und begann dann langsam mit einer einfachen französischen Frage. Sie reagierte nicht, sah durch mich hindurch. Plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck, als wäre ihr etwas ganz Wichtiges eingefallen, und plötzlich wechselte sie die Sprache und begann Englisch zu sprechen.

      Wieder ein Redeschwall, aber diesmal konnte ich ihm folgen. Die Frau und ihre Cousine waren einige hundert Meter vor der Küste mit einem Boot gekentert. Ihre Cousine habe sich nicht zugetraut, bis an Land zu schwimmen, und habe sich an einer Boje festgehalten. Man müsse sie unbedingt schnell holen, bevor sie ein Hai entdecke, oder ihr die Kraft ausginge, oder sie einfach vor Angst wahnsinnig werde, wenn die Dunkelheit hereinbreche und keine Rettung in Sicht sei.

      Dass ich ihre Erzählung mit englischen Gegenfragen beantwortete, denen offensichtlich zu entnehmen war, dass ich sie verstanden hatte, ließ die Energien der Frau endgültig wieder zurückkehren. Wir berieten kurz, welche Möglichkeiten es gab, und danach ließ ich sie mit all meinen Sachen zurück und ging in Richtung Straße. Der Verkehr war hier zwar sehr schwach, aber es fuhr doch alle paar Minuten ein Auto durch und eines musste einfach anhalten und mir die Möglichkeit eines Telefonats geben oder mich mitnehmen.

      Ich verirrte mich zum Glück nicht und in einer knappen halben Stunde hatte ich die Straße erreicht. Als Erstes kam ein Lastwagen um die Kurve. Der Fahrer fuhr langsam auf mich zu. Wohl als er sah, dass es keine Frau war, beschleunigte er und fuhr an mir vorbei. Eine ältere Frau in einem PKW hatte vermutlich Angst – sie machte eine kurze sich entschuldigende Geste bevor sie beschleunigte. Ein alter Bauer in einem schon etwas historisch wirkenden großen Mercedes hielt an. Er hatte auch kaum andere Möglichkeiten gehabt – nach dem Lastwagen und der älteren Frau hatte ich mir Vorwürfe gemacht, nicht entschlossen genug gewesen zu sein, und war dann vor die Kurve gegangen und hatte mich in die Mitte der Fahrbahn gestellt. Der alte Mann hatte kein Handy, aber er bot an, mich ins nächste Richtung Landesinnere gelegene Dorf mitzunehmen. Das würde zwanzig Minuten dauern, und da anders keine schnellere Lösung zu erwarten war, stieg ich ein.

      Der alte Bauer war vielleicht schwerhörig. Bevor ich eingestiegen war, hatten wir uns trotz meiner so sehr begrenzten Spanischkenntnisse ganz gut verständigen können. Jetzt im Auto, mit halb geöffneten Fenstern, war es mir aber nicht gelungen, herauszufinden, ob er zu Hause Telefon hatte. Ich wollte mich dann lieber nicht darauf verlassen – es war nun ohnehin insgesamt schon fast eine Stunde vergangen, seit ich mich von der Verletzten verabschiedet hatte – und bat ihn anzuhalten und mich aussteigen zu lassen, als wir den kleinen Kirchenplatz erreichten, der vermutlich das Zentrum des Dorfes war. Er erwiderte meinen Dank, indem er kurz seinen Hut zog, und fuhr davon.

       [6]

      Der Kirchenplatz war völlig ausgestorben, aber ein Stück weiter die Straße hinauf entdeckte ich ein