der Schlucht. An seiner Basis war von Schmelzwasser oder einer anderen Einwirkung das Eis abgetragen und ein schmaler Felsensims von der Breite einer Männerhand freigelegt worden. Meine Kleidung verfing sich an Höckern und anderen Auswüchsen der Eisfläche, und ich griff nach ihnen, um mich auch mit den Händen daran festzuklammern. So kam es, dass ich ziemlich sanft an der überhängenden Zunge des Gletschers hinabglitt und schließlich mit den Füßen auf dem schmalen Sims an der Wurzel des Eiszapfens landete. Ich stand fast aufrecht, mit ausgebreiteten Armen, wie auf den Gletscher gekreuzigt.
Jetzt sah ich, was geschehen war, und der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. Vier Fuß unterhalb der abgebrochenen Spitze des gigantischen Eiszapfens hing Leo an seinem Seil - zu weit entfernt, als dass ich ihn erreichen hätte können. Er pendelte leicht hin und her und drehte sich dabei um die eigene Achse. Unter uns gähnte der schwarze Grund der Schlucht, und aus ihrer Tiefe sah ich das weiße Schimmern von Schnee.
Stellt euch das vor! Ich war auf das Eis gekreuzigt, mit den Füßen auf einem handbreiten Sims an einer steilen Felswand; meine Finger klammerten sich an Unebenheiten im Eis fest, auf denen kaum ein Vogel Halt gefunden hätte. Um mich herum nur glattes Eis und glatte Felswände. Der Rückweg auf den Gletscher, von dem ich gekommen war, war unmöglich, mich zu bewegen, ebenso, da ein Ausgleiten mein sicheres Ende bedeutet hätte.
Und unter mir hing, wie eine Spinne an ihrem Faden, Leo, und drehte sich langsam um die eigene Achse.
Ich konnte sehen, wie sich das Seil aus ungegerbtem Fell unter seinem Gewicht dehnte und die Knoten sich allmählich auseinanderzogen, und ich erinnere mich, dass ich mich fragte, was eher nachgeben würde, das Fell oder die Knoten, oder ob beide halten würden, bis er dort gestorben war und seine Knochen einzeln in die Schlucht fallen würden.
Oh! Ich habe in meinem Leben so vielen Gefahren ins Auge gesehen, doch niemals - niemals! - in einer so ausweglosen Lage wie dieser. Eine tiefe Verzweiflung packte mich, und kalter Schweiß brach aus allen Poren. Ich fühlte ihn über mein Gesicht rinnen wie Tränen. Mein Haar sträubte sich. Und unter mir hing Leo, drehte sich langsam um sich selbst, und wenn sein Gesicht in meine Richtung gewandt war, sah er mich an, und sein Blick war grauenhaft.
Das Schlimmste aber war die Stille, eine Stille der Hilflosigkeit und der Hoffnungslosigkeit. Wenn Leo geschrien hätte, wenn er sich gegen das Unvermeidliche gewehrt und um sich geschlagen hätte, wäre es leichter zu ertragen gewesen. Doch zu wissen, dass er lebend an dem Seil hing, alle Nerven und Sinne zum Zerreißen angespannt... Mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!
Jeder Muskel meines Körpers begann zu schmerzen, doch ich traute mich nicht, ein Glied zu rühren. Sie schmerzten entsetzlich, jedenfalls glaubte ich das, und unter dieser Folter, physisch und psychisch, floh mein Bewusstsein in die Vergangenheit. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind auf einen Baum geklettert und an eine Stelle gelangt war, wo ich nicht mehr vor und nicht zurück konnte, und wie ich dort gelitten hatte. Ich dachte an meine Zeit in Ägypten, wo ein leichtsinniger Freund allein auf die Zweite Pyramide gestiegen und auf ihrer Spitze liegengeblieben war, weil er den Abstieg nicht finden konnte. Eine halbe Stunde lag er dort, mit vierhundert Fuß fast glatter Fläche unter sich. Ich sah ihn jetzt wieder, wie er dort oben auf dem Bauch lag, mit seinen Füßen vergeblich nach einem Riss oder einem Spalt in den Steinplatten tastete und ihn dann wieder zurückzog. Ich konnte wieder sein zerquältes Gesicht sehen, einen heb len Fleck auf dem roten Granit.
Dann verschwand das Gesicht, und es wurde dunkel um mich, und in der Dunkelheit formten sich Visionen: von der lebenden, rachsüchtigen Lawine, von dem Schneegrab, in dem ich versunken war, und - ach! - viele Jahre zurück: von Ayesha, die Leos Leben von mir forderte. Dunkelheit und Stille, durch die ich das Knacken meiner Gelenke hörte.
Plötzlich ein Aufblitzen aus dem Dunkel, und aus der Stille ein Laut. Das Aufblitzen kam von der Klinge eines Messers, das Leo gezogen hatte, und er hackte damit auf dem Lederseil herum, um ein Ende zu machen. Und das Geräusch, das ich gehört hatte, waren die Schreie, die er dabei ausstieß, grauenvolle Schreie, halb Ausdruck von Trotz, halb Schreckensschreie.
Als er zum dritten Mal zuschlug, riss das Seil.
Ich sah, wie es sich auflöste. Die Klinge hatte es zur Hälfte durchtrennt, die losen Teile kräuselten sich nach oben und unten wie die Lefzen eines wütenden Hundes, während sich der noch haltende Teil weiter und weiter dehnte, und dabei immer dünner wurde. Dann zerriss er, und das Seil peitschte hoch und traf mich ins Gesicht.
Sekunden später hörte ich ein knirschendes, krachendes Geräusch. Leo war auf dem Boden der Schlucht aufgeschlagen. Leo war tot, eine leblose Masse von zerfetztem Fleisch und zerbrochener Knochen, so wie ich ihn vor mir gesehen hatte. Ich konnte es nicht länger ertragen. Mein Bewusstsein und meine Nerven hatten die Betäubung abgeschüttelt. Ich würde nicht so lange warten, bis ich, am Ende meiner Kraft, meinen unsicheren Halt verlor und abstürzte wie ein verwundeter Vogel von einem Baum. Nein, ich wollte ihm sofort folgen, und aus freiem Entschluss.
Ich ließ meinen Halt los, presste beide Arme an den Körper und genoss sekundenlang das Nachlassen der Schmerzen in meinen Muskeln und Gelenken, das Gefühl von Befreiung, das mir diese kleine Bewegung schenkte. Dann richtete ich mich langsam auf, stand aufrecht an die steile Felswand gepresst und blickte zum letzten Mal zum Himmel hinauf. Mehrere Sekunden lang stand ich so, den Kopf in den Nacken gelegt, und murmelte ein Gebet.
»Ich komme, Leo!«, schrie ich dann, riss beide Arme über den Kopf und tauchte so, wie ein Schwimmer, der ins Wasser springt, in die schwarzen Tiefen der Schlucht.
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