Thomas Helm

"Blutige Rochade"


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Faber, einen zur Brust genommen. Dabei kam er von sich aus auf dieses Thema zu sprechen. Der Faber hatte damals angeblich zusammen mit dem Doc die Tatortfotos ausgewertet. Die soll in seinem Auftrag der Chef von den Versorgern geknipst und entwickelt haben. Beim genaueren Hinsehen entdeckten sie zufällig, dass der Junge wohl auch einen Schlag ins Genick bekam. Faber vermutete daraufhin, dass es mit dem Schal nur eine Art Ablenkung gewesen wäre. Das wurde bloß dahin gehend nie offiziell untersucht, sagte er. Danach hätte sich ohnehin keiner mehr dafür interessiert. Da passierten ganz andere Sachen, die alle viel stärker beschäftigten. Übrigens fällt mir da noch etwas ein. Der Doktor Langner, der Baustellenarzt, verschwand kurz darauf. Angeblich haute er im Urlaub nach dem Westen ab, munkelte man. Aber mehr weiß ich auch nicht, Frank. Da bin ich mir sicher. Tut mir leid um deinen Bruder.«

      Bauerfeind winkte ab. »Danke! Kannst du dich an den Namen von dem Macker von der DSF erinnern? Und ist es möglich, dass der meinen Bruder ...?«

      Bruhns nickte. »Ja, das wäre denkbar. Habe später so was auch von anderer Seite gehört. Und der Name? Ja, das war ’ne echt blöde Sache. – Knäblein – hieß der. Entschuldige bitte. Doch das stimmt wirklich. War so ein dicker, schwammiger Typ.«

      Schweigend vor sich hinstarrend trank Bauerfeind seinen Kaffee in kleinen Schlucken aus. Alles was sein Gegenüber ihm soeben berichtete bestätigte seine Vermutung.

       Marco konnte sich nicht selbst erhängt haben!

       Ein angeblich möglicher Schlag in den Nacken? Verdammt! Wurde da etwas vertuscht? Die Sache stank gewaltig nach einem – Mord!

       Von wegen er hätte sich betrunken! Marco rührte niemals einen Tropfen Alkohol an! Auch nicht an der Trasse!

      Rasch stieg vor Bauerfeinds inneren Auge eine Erinnerung auf.

      Es begab sich bei einer familiären Zusammenkunft daheim, als der Kleine zum ersten Mal aus dem Ural in den Urlaub kam. Da beschwerte er sich darüber, dass man ihn anfangs in seiner Brigade wegen seiner Abstinenz schräg anschaute, ja sogar verhöhnte!

       Doch letztendlich hätte man sich daran gewöhnt, dass er jederzeit nüchtern blieb. Während sich seine Kollegen stets hackedicht abfüllten, sorgte er für Ordnung, schlichtete Streit.

      Bauerfeind zeigte sich immer fest in der Überzeugung, dass Marco damals, als es passierte, auf keinen Fall betrunken war.

       Und die Sache mit dem Schwul sein?

      Nun, das stand auf einem anderen Blatt! Leider. Denn hierbei schien so etwas, wie eine Art von Veranlagung, vonseiten ihres Vaters bei den Kleinen durchgeschlagen zu sein.

      Schon, als Marco sich in der Pubertät befand, erkannte er dessen Wesenszug. Er versuchte, ihm zu helfen. Das tat er, indem er dem Jungen ans Herz legte, seine Gefühle und Neigung nicht zu unterdrücken. Gib dich so, wie du bist, forderte er ihn auf.

      Aber er bekam dessen ungeachtet mit, dass sein Bruder in der Öffentlichkeit immer betont männlich auftreten wollte. Niemals bekannte er sich zu seinem Schwul sein. Stattdessen kaschierte er es.

      Daraus resultierte wohl auch Marcos Entschluss, an die Trasse zu gehen. Doch damit nicht genug! Letztlich verpflichtete sich der Junge zur angeblich härtesten Truppe, dem LT!

      Doch aus Bruhns Schilderungen heraus ließ sich auf vieles schließen.

      Auf irgendeine Weise geriet Marco anscheinend in die Finger dieses homosexuellen Funktionärs von der DSF. Woraufhin er unter seltsamen Umständen zu Tode kam.

       Und das alles soll ein Selbstmord gewesen sein?

       Bauerfeind zwang sich zur Ruhe.

      Denn jetzt wusste er einiges mehr, was ihm weiterhelfen würde. Doch darum vermochte er sich erst später kümmern. Heute wollte er sich nur noch die Namen notieren, die ihm Bruhns soeben genannt hatte. Vielleicht kam ihnen eines Tages eine Bedeutung zu!

      Er wurde aus seinen Gedanken gerissen.

      »Geht’s dir gut, ist alles in Ordnung?«, fragte Bruhns argwöhnisch. Dabei warf er einen Blick auf seine Uhr.

      Bauerfeind schob den Kaffeepott beiseite und nickte beherzt. »Ja! Mir geht nur nach dem, was du mir erzählt hast, einiges durch den Kopf. «

      Bruhns winkte der Serviererin zu.

      Sie zahlten, verließen die Tagesbar und strebten der U-Bahn zu. Jetzt galt es erst einmal abzuklären, was es mit dem Ruf ins Ministerium auf sich hatte.

       Ost-Berlin, Zentrale des »Amtes für Nationale Sicherheit« (6.Januar 1990)

      Sie nahmen die U-Bahn in Richtung »Alexanderplatz«.

      Schon nach einer Station am Bahnhof »Magdalenenstraße« stiegen sie aus dem Zug. Sie hasteten die Stufen empor, überquerten die Frankfurter Allee, bogen in die Ruschestraße ein. Für sie unerwartet, ballte sich hier eine Menschenmenge. Viele hielten Transparente hoch, einige riefen laut irgendwelche Parolen.

      Unbeirrt davon drängten sie sich zwischen den Demonstranten hindurch. Stur strebten sie auf das Gebäude des früheren Ministeriums zu. In dem sich jetzt laut der offiziellen Bezeichnung die Zentrale dieses neuen »Amtes für Nationale Sicherheit« befand. So zumindest belegte es ein provisorisch anmutendes Schild neben der Hofeinfahrt.

       Aber auch davor standen eine Vielzahl Leute in mehreren Grüppchen herum. Auf mitgeführten Pappschildern gaben sie sich als Mitglieder von Bürgerkomitees zu erkennen.

      Bruhns und Bauerfeind entschlossen sich, dessen ungeachtet gleich von hier aus das Gebäude zu betreten.

      Um den riesigen Plattenbau, von dem aus das Ministerium über viele Jahre lang die Macht im Lande ausgeübt hatte, wehte ein eisiger Wind.

      Als sie sich durch die eng zusammenstehenden Demonstranten schoben, wurden sie von einigen dieser Leuten, bedrängt.

      »Wohin wollt ihr Typen? Gehört ihr auch zu den Verbrechern da drin? Was habt Ihr denn dort noch zu suchen? «, rief man ihnen zu.

      Wortlos drängelten sie sich durch die grimmig dreinschauenden Grüppchen voran. Doch letztendlich erreichten sie den Eingang. Dort standen mehrere Posten mit Maschinenpistolen. Sie trugen Uniformen der NVA.

       Bruhns und Bauerfeind atmeten auf. Augenscheinlich sicherten immer noch die Genossen vom Wachregiment das Objekt.

      Nachdem sie ihre Dienstausweise vorgewiesen hatten wurden sie durchgelassen und durften das Haus betreten.

       In der zerbröckelnden Zentrale der Macht

      Im Foyer flimmerte ein TV-Gerät. Den Ton hatte man abgestellt. Zwei nervös wirkende, ständig rauchende Unteroffiziere saßen hinter dem breiten Tresen. Angespannt beobachteten sie mehrere klobige Kontrollmonitore: Dabei warfen sie prüfende Blicke auf das Kommen und Gehen.

      Eine Vielzahl Männer und einige Frauen in Zivil hasteten die langen Flure entlang. Oder sie betraten und verließen das Gebäude mit gesenkten Köpfen.

      Vor den Türen der Fahrstühle warteten Bauerfeind und Bruhns eine Weile erfolglos. Dann traten sie den Weg in den fünften Stock über das Treppenhaus an.

      Im gesamten Objekt herrschte eine ungewohnte, chaotisch anmutende Hektik. Die noch im Haus verbliebenen Mitarbeiter der Zentrale wirkten gehetzt. Vielen sah man an, dass sie in den letzten Tagen wenig Schlaf gefunden hatten.

      Fast alle Türen standen offen. In den meisten Büros ratterten Reißwölfe und andere Aktenvernichter. Ebenso wie auf den Fluren davor.

      In den Gängen und auch auf den Etagenfoyers vor den Fahrstuhltüren stapelten sich Papiersäcke. Prall gefüllt mit feinen Papierstreifen oder Papierfetzen lagen sie zuhauf.

      In kleinen Gruppen standen die Mitarbeiter auf den Treppenpodesten beisammen. Stapelweise zerrissen sie Akten und andere Papiere mit den bloßen Händen.

       Eine noch nie da gewesene Vernichtungsaktion ging hier offensichtlich vonstatten.

      Bauerfeind schüttelte