Jetzt hatte sie die nötige Bettschwere erreicht und schloss schläfrig die Augen.
Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war der Umstand, dass die Hochzeitsgesellschaft jetzt erst so richtig aufdrehte. Laute Bässe dröhnten durch das Gemäuer und im Park grölten die Feiernden über einen anzüglichen Witz.
Genervt stülpte Julia das Kopfkissen über ihren Kopf, um die Geräuschkulisse zu dämpfen. Doch das war für die Katz. Wenn die angeheiterte Meute bis in die frühen Morgenstunden feierte, konnte sie die Nachtruhe getrost vergessen. Trotzdem startete sie einen weiteren Versuch, um in den Schlaf zu finden. Aber auch den hätte sie sich sparen können.
Verärgert stand sie auf und schaltete den Fernseher wieder ein. Sie zappte sich durch die Kanäle und blieb bei einer Quizsendung hängen. Immer wieder fielen ihr die Augen zu, aber mit jedem neuen Lied schreckte sie wieder auf. Kurz vor Mitternacht wurde es draußen zunehmend lauter. Der erste dröhnende Knall entlockte ihr einen spitzen Schrei, dann färbten sich die Wände des Hotelzimmers rot.
Kapitel 4
Staunend stand Julia am Fenster und starrte in die Nacht. Das Feuerwerk hatte es in sich und war bestimmt kein billiger Spaß. Sie stimmte in die vielen Ahs und Ohs mit ein und erfreute sich am Anblick der blitzenden Lichter. Wenigstens eine kleine Entschädigung für diesen verhunzten Tag.
Ein leises Kratzen an der Tür ließ sie aufhorchen. Sie versuchte angestrengt zu lauschen, doch die Explosionen der Feuerwerkskörper übertönten sämtliche Geräusche. Was soll’s, dachte sie schulterzuckend. Das Schloss war alt, da knackte es schon mal im Gebälk. Sie richtete ihren Blick wieder aus dem Fenster und verfolgte aufmerksam das leuchtende Schauspiel am Himmel.
Wiederholt kratzte etwas an der Tür und diesmal pendelte sogar der Anhänger des Zimmerschlüssels leicht hin und her. Hatte Christian schon Feierabend? Aber warum klopfte er dann nicht an?
Sie humpelte zur Tür und drehte den Schlüssel herum. Wieder war ein kräftiger Zug von Nöten, um die Tür zu öffnen. Verwundert blickte sie nach rechts und links, aber niemand war zu sehen. Seltsam.
Im hinteren Bereich des Flures knarrten die Dielen und Julia hörte ein Flüstern. Was zum Teufel war das? Trieb vielleicht ein Taschendieb sein Unwesen, weil die Gelegenheit gerade günstig war? Während die Hochzeitsgesellschaft draußen feierte, konnten die Zimmer in aller Ruhe ausgeräumt werden. Besser, sie ging auf Nummer sicher.
„Hallo? Ist da jemand?“
Eine Treppenstufe knarzte und das Wispern verstummte. Julia zog sich rasch ihre Jeans über und betrat den Flur.
„Was soll denn das? Ich weiß genau, dass Sie hier sind.“
Ein missgelaunter Ton schwang in ihrer Stimme mit und sie humpelte verärgert in Richtung Treppe. Über ihr erklang ein leises Kichern und sofort erinnerte sie sich an die Begegnung vom Vormittag. Geisterte das Mädchen vielleicht auf dem Dachboden herum?
Kaum hatte Julia die Treppe erreicht, fiel ihr etwas direkt vor die Füße. Erschrocken wich sie zurück und klammerte sich am Geländer fest. Jemand hatte einen Ball vom Dachgeschoss in die darunterliegende Etage geworfen und nun hüpfte dieser fröhlich die restlichen Stufen herunter, während Julia einen Heldentod starb. Unten in der Lobby prallte der rote Ball von einer Wand ab und rollte noch ein kleines Stückchen, bevor er neben einem Sessel liegen blieb.
Julia mochte Kinder, gar keine Frage, aber was dieses Mädchen trieb, ging ihr eindeutig zu weit. Um diese Uhrzeit gehörten Kinder ins Bett und daran würde sich auch in hundert Jahren nichts ändern. Verärgert erklomm sie die Stufen zum Dachgeschoss und biss die Zähne fest zusammen. Warum musste sie sich auch ausgerechnet heute den Knöchel verstauchen?
Nachdem sie oben angekommen war, schaute sie sich suchend um. Der Flur im Dachgeschoss war nur spärlich ausgeleuchtet und das Mädchen konnte sich praktisch hinter jeder Nische verbergen. Julia fühlte sich beobachtet und wäre am liebsten umgekehrt. Erneut knarrten die Dielen und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
„Warum versteckst du dich vor mir?“
Mit der Zeit machte sich ihre innere Anspannung bemerkbar und Julias Hände zitterten. Zögernd näherte sie sich dem Bereich, der im Lichtschatten lag, und spürte den eigenen Herzschlag. Sie hielt den Atem an und warf einen Blick in die Nische, doch die war leer. Wohin war das Mädchen nur verschwunden?
Obwohl in diesem Bereich keine Gäste untergebracht waren, rüttelte Julia sicherheitshalber an allen Türen, vergebens. Ratlos machte sie kehrt, um wenigstens den Ball in der Lobby an sich zu nehmen. Als sie den Bereich neben den Sesseln absuchte, hörte sie ein lautes Räuspern hinter sich.
„Christian, was machst du denn hier?“, rief sie erstaunt.
„Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen.“
„Ich suche den Ball.“
„Du suchst was?“
„Ich suche den Ball von diesem Mädchen.“
„Hast du etwa getrunken? In der Minibar befinden sich doch nur Wasser und Saft.“
„Christian, ich trinke nicht“, erwiderte sie empört. „Jemand hat sich vorhin auf dem Flur herumgetrieben und einen Ball die Treppe heruntergeworfen. Und den suche ich jetzt.“
Christian ging in die Hocke und durchsuchte mit ihr gemeinsam die Lobby „Hier ist nichts.“ Er klopfte sich den Staub von der Hose und wiegte skeptisch seinen Kopf. „Bist du dir wirklich sicher, was du gesehen hast?“
„Du glaubst mir nicht?“ Fassungslos sah sie ihn an. „Weißt du, was ich jetzt zu tun gedenke? Ich fahre nach Hause!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Treppe hinauf, um ihre Sachen zu holen.
„Tut mir leid Christian, aber für mich war dieser Tag ein einziges Desaster und es besteht garantiert kein Wiederholungsbedarf. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“
Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, ließ sie Christian einfach stehen. In der Lobby kam ihr das Küchenpersonal entgegen und grinste wissend, als sie samt Tasche durch die Tür des Schlosshotels nach draußen verschwand.
Frierend saß Julia im eiskalten Wagen und versuchte mit steifen Fingern den Motor zu starten. Nach mehreren Versuchen sprang er endlich an und sie trat auf das Gaspedal. Langsam rollte das Fahrzeug in Richtung Hauptstraße und sie konnte kaum glauben, wer dort einsam und verloren am Straßenrand stand.
Der eisige Wind zerrte an dem dünnen Kleidchen und wirbelte unbarmherzig durch die blonden Locken. Den verblichenen Ball fest an ihre Brust gepresst blickte das Mädchen dem Fahrzeug mit wehmütigem Blick hinterher.
Umgehend trat Julia auf die Bremse und der Kleinwagen geriet gefährlich ins Schleudern, denn der nächtliche Raureif hatte für einen rutschigen Untergrund gesorgt. Nach einer Schrecksekunde steuerte sie gegen und der Wagen kam zum Stehen. Julia stieg aus und humpelte zurück, um die Kleine mitzunehmen. Doch wie groß war ihr Erstaunen, als sie am Straßenrand nur blätterloses Strauchwerk vorfand. Von dem Mädchen fehlte jede Spur.
War sie einer optischen Täuschung aufgesessen? Oder hatte sie nur gesehen, was sie unbedingt hatte sehen wollen?
Der geschwollene Knöchel schmerzte und sie war völlig übermüdet, es machte keinen Sinn, weiter nach dem Mädchen zu suchen. Julia glitt wieder hinter das Steuer und trat aufs Gas. Sie wollte nur noch weg von hier.
Der schrille Klingelton des Telefons zerriss die Stille. Verschlafen rieb sich Julia die Augen und ein Blick auf den Wecker ließ sie erahnen, wer da am anderen Ende der Leitung mit ihr sprechen wollte. Sie hätte pünktlich um zwölf bei ihren Eltern zum gemeinsamen Mittagessen sein sollen, aber inzwischen war es kurz vor eins.