Er saß direkt vor dem Fenster und flirtete ganz ungeniert mit der Dame vom Nebentisch. Julias Enthusiasmus löste sich vollends auf.
Sie beschloss kurzerhand zurückzufahren, die Sache mit dem Foto war sowieso eine dumme Idee gewesen. Kaum hatte sie eine Kehrtwendung vollführt, klopfte Christian an die Scheibe. Wie ärgerlich. Enttäuscht drehte sie sich um und sah, wie er ihr zuwinkte. Warum hatte sie nur so lange gezögert?
Sie trat durch die große Glastür und steuerte den Tisch an. Christian nickte ihr zur Begrüßung zu, blieb aber sitzen. Ein Mann ohne Manieren, dachte Julia verärgert. Es wäre doch das Mindeste gewesen, ihr aus der Jacke zu helfen. Sobald sich eine günstige Gelegenheit ergab, würde sie sich unter einem Vorwand davonmachen.
Mühsam pellte sie sich aus ihrer Winterjacke und hängte sie an einen Haken.
„Ich habe bis vor einem Jahr in diesem Restaurant gearbeitet. Der gesamten Mannschaft musste ich das Kochen und den Service beibringen“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.
Bitte nicht schon wieder. Julia senkte ihren Blick und atmete tief durch. Am liebsten hätte sie ihm die Speisekarte um seine Ohren gehauen, aber diese Blöße wollte sie sich in aller Öffentlichkeit nicht geben.
„Na, dann bin ich aber gespannt, ob sich dein Einsatz auch gelohnt hat“, erwiderte sie mit einem Hauch von Sarkasmus.
Christians Blick verfinsterte sich. „Wie darf ich denn das bitte verstehen?“
„Ich freue mich auf das Essen, deinen Empfehlungen nach zu urteilen“, wich sie ihm aus.
„Ach so. Ich dachte schon, ich hätte dich falsch verstanden.“
„Aber nein, keine Sorge“, versicherte sie ihm mit einem aufgesetzten Lächeln. Der Appetit war ihr vergangen und sie wählte nur eine Kleinigkeit. Der enttäuschte Blick von Christian ließ sie kalt. Er konnte ja anschließend die Dame vom Nebentisch einladen.
„Du scheinst nicht auf deftige Hausmannskost zu stehen?“, fragte er, während sein Blick ihren Oberkörper streifte.
„Was willst du damit sagen? Dass du mehr auf Rundungen stehst und ich dir zu mager bin?“
Ihre Augen funkelten zornig. Dieser Mann brachte sie völlig aus dem Konzept, er musste ein Dauer-Abo für egomanes Verhalten abgeschlossen haben. Wie konnte er sie nur so verletzen, gleich beim ersten Treffen?
Selbstgefällig lehnte er sich zurück. „Nein, ich stehe nicht auf dicke Frauen.“
Jeder Satz aus seinem Mund klang in einem gewissen Maße abwertend. Versuchte er sich auf diese Weise zu schützen? War das eine Abwehrreaktion?
Mach schnell das Foto und sieh zu, dass du Land gewinnst, flüsterte ihre innere Stimme. Verkorkster konnte der Abend wirklich nicht mehr werden. Oder etwa doch?
„Na, das ist aber eine Überraschung“, ertönte eine bekannte Stimme vom Nebentisch.
Beatrice. Das Böse hatte gesiegt.
„Schwesterherz, was machst du denn hier?“, rief sie erstaunt.
Ihre eigene Schwester war also die Flirtpartie von Christian gewesen. Julia hatte krampfhaft versucht, die Frau vom Nebentisch zu ignorieren und sich mit dem Rücken zu ihr gesetzt. Diesen Fehler würde sie kein weiteres Mal begehen.
„Ich wurde leider versetzt und warte schon seit einer Stunde hier.“
„Warum bist du nicht gegangen?“
Genau, warum löste sich Beatrice nicht einfach in Luft auf und verschwand? Und dieser ganze Ärger nur, um es Florian mit einem Foto heimzuzahlen.
„Tja, ich glaube eben an das Gute im Menschen.“
Ihre Schwester warf einen koketten Blick in Christians Richtung. Wenn sich Beatrice zu ihnen gesellte, konnte sie das Foto vergessen, dann war der gesamte Abend ruiniert. Und prompt passierte das Unvermeidliche.
„Dann setzen Sie sich doch zu uns“, forderte Christian ihre Schwester auf.
Julia schnappte empört nach Luft, so hatte sie ihn noch nie säuseln hören. Während er sich ihr gegenüber wie ein grober Klotz aufführte, versprühte er in Anwesenheit von Beatrice einen nie gekannten Charme. In ihr brodelte es gewaltig.
„Vielen Dank.“
Beatrice blickte ihm tief in die Augen, bevor sie sich setzte. Julia überlegte derweil, ob sie ihrer Schwester fix den Stuhl wegzog, damit diese hintenüber kippte. Bei diesem Herumgeturtel wäre das sicher keinem der beiden aufgefallen.
„Was grinst du denn so, Schwesterchen?“
„Ach nichts.“
Ja, die liebe Beatrice, das war schon ein Kapitel für sich. Sie besaß die körperlichen Vorzüge, um die Julia sie oft beneidet hatte. Große Brüste, an denen sich so mancher Mann gerne ausgeweint hätte und wohlgeformte Hüften, die sie aufreizend schwang.
Beatrice verführte reihenweise das männliche Geschlecht, so als müsse sie sich etwas beweisen. Und sie hatte auch nicht vor den Männern Halt gemacht, mit denen Julia liiert gewesen war. Eine Frau, die alles haben konnte, brach in intakte Beziehungen ein, um sie zu zerstören. Und nun saß sie ihnen gegenüber und flirtete ziemlich unverschämt mit Christian. Das erzürnte Julia.
Es war schwer vorstellbar, dass sie tatsächlich dieselben Gene in sich trugen, und mehr als einmal hatte sich Julia gefragt, ob sie als Babys vielleicht vertauscht worden waren? Ständig hielten die Eltern zu Beatrice und egal, um welche Angelegenheit es sich drehte, sie bekam immer Recht. Das hatte zu einem tiefen Riss innerhalb der Familie geführt.
Bei Julia verhielt es sich anders, sie fühlte sich oft ausgenutzt. Jeder Einladung zu Familienfeiern folgte die unweigerliche Aufforderung zur Bewirtung der Gäste und der Beseitigung des Abwaschs, während sich die Herrschaften im Wohnzimmer amüsierten. War das der Preis der Erstgeborenen, sich um alles kümmern zu müssen? Ein vorbestimmtes Schicksal – Julia, die Unscheinbare, und Beatrice, der Vamp?
Frustriert beobachtete sie Christian und Beatrice. Wie witzig und geistreich er in Gegenwart ihrer Schwester doch sein konnte, kannte sie bisher nur seine plumpen Töne. Also auf in den Kampf, bevor das Essen serviert wurde!
„Erzähl mal Christian, was sagt eigentlich deine Partnerin dazu, dass du dich mit anderen Frauen triffst?“
Dieser Seitenhieb hatte gesessen, seine Kinnlade folgte der Erdanziehungskraft.
„Wieso interessiert dich das ausgerechnet jetzt?“
Drei Mal darfst du raten, dachte sie schadenfroh. „Ich habe mir deinen Beziehungsstatus angesehen und war ein wenig überrascht, wenn du verstehst, was ich meine.“
Sofort zog sich Beatrice zurück. Jetzt, wo feststand, dass es sich nicht um Julias Neuen handelte, musste sie ihre Flirtstrategie neu überdenken.
„Ich habe ein paar Probleme mit den Servicekräften. Die Mädels dackeln mir ständig hinterher und ich blocke die Annäherungsversuche lieber von vornherein ab.“
Oh. Mein. Gott. Beziehungsweise musste sich Christian für einen halten. Dieser Mann neigte zum Größenwahn und selbst Beatrice hatte ein großes Fragezeichen im Gesicht.
„Dann bist du ja sehr gefragt.“ Julia lächelte scheinheilig.
„Könnte man so sagen …“
Wie jetzt? Hatte er ihren Zynismus kein bisschen bemerkt? Julia musste sich auf die Zunge beißen, bevor ihr noch etwas herausrutschte, das sie anschließend bereute.
Endlich wurden die Menüs serviert und die Situation entspannte sich. Julia konzentrierte sich auf ihren Teller, während das Interesse ihrer Schwester angesichts der Konkurrenz neu entflammte. Nach dem Essen plauderten Christian und Beatrice ganz unverfänglich über belanglose Dinge. Gelangweilt blickte Julia von einem zum anderen und unterdrückte ein Gähnen.
„So, ihr Lieben, ich werde euch jetzt verlassen. Ich schreibe morgen eine wichtige Klausur und muss früh