hatte. Offensichtlich hatte ich nicht nur die Zeit der Bundestagswahl verpasst. Es muss wohl eine neue Regierung an die Macht gekommen sein – eine, die allerlei Unfug trieb. Die alten Grenzsicherungen waren also wiederhergestellt geworden. Jemand muss sich den Spaß erlaubt haben, die DDR nach altem Vorbild wiederzuerrichten. Dafür kam nur einer infrage, dieser Sonneborn! Nicht zu fassen! Was für ein hinterhältiger Chaot! Die Partei hatte er vorgeblich als Parodie auf die SED-Einheitspartei gegründet. Alle hatten dies für Spinnerei, besser gesagt, für eine Satire gehalten. Niemand hat vor, eine Mauer zu errichten, hatte er zitiert. Dazu das Augenzwinkern – das fanden alle köstlich. Da werden einige, vielleicht zu viele, gedacht haben: der ist so witzig, den wählen wir! Keiner hätte daran gedacht, dass der Mann es ernst meinen könnte. Selbst ich nicht. Das muss ich leider zugeben. Jetzt ergibt der ganze Unfug einen Sinn. Wie naiv war ich, dass ich seine Strategie nicht durchschaut habe! So viele Staatslenker hatte ich getroffen, die als Komödianten großartig gewesen wären, die sich und ihre Possen sehr ernst nahmen. Die ich ernst nehmen musste, da sie sich selbst für Wesen mit Vernunft und Verstand hielten. Bizarre und narzisstische Persönlichkeiten, bei deren Auftritten manch einer laut gelacht hätte. Das hatte ich mir jedoch niemals erlaubt. Damals in der widersprüchlichen Zeit der DDR hatte ich gelernt, wie man Menschen genau einschätzen konnte. Ich wusste, wer von ihnen ein Pappenheimer war und wer nicht. Solch eine Heimtücke wie bei diesem Herrn Sonneborn habe ich in meinem ganzen Politikerleben noch niemals erlebt. Das war ein Geniestreich. Ich musste dringend handeln! Zuallererst brauchte ich jetzt einen aktuellen Lagebericht.
»Bitte! Ich muss wissen, was im meinem Land passiert ist. Gibt es in Ihrem Haus einen Internetzugang? Oder wenigstens einen Fernseher, damit ich mich über alle Neuigkeiten auf den aktuellen Stand bringen kann?«
»Damit kann ich Ihnen leider nicht dienen. Zudem muss ich mich noch um andere Patienten kümmern.« Der Oberarzt vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber ich kümmere mich darum, dass Sie in dieser schwierigen Situation nicht im Regen stehen gelassen werden. Jetzt, da Sie nach langer Zeit zu Bewusstsein gekommen sind. Ich werde einen Termin mit unserem Hauspsychologen vereinbaren.«
Er ließ mich alleine stehen und zog die weiße Mannschaft hinter sich her. Was sollte ich tun? Abwarten, das kam für mich nicht infrage. Ich ging auf mein Zimmer und öffnete den Wandschrank. Dort hing mein rotes Jackett und die anderen Kleidungsstücke. Auch meine Handtasche befand sich darin. Ohne lange Suche fand ich mein Handy. Es ließ sich nicht einschalten. Was mich nicht überraschte, denn spätestens nach einer Woche, die sicher vergangen war, musste der Akku leer sein. Das Ladegerät hatte ich immer dabei und schloss es an die Steckdose an. Nun konnte ich mein Gerät direkt einschalten.
Ich wählte Herrn Altmeier und aktivierte die grüne Taste. Es tat sich nichts. Der Balken, der die Verbindungsqualität zeigte, leuchtete rot. Kein Netz verfügbar. Nun konnte ich die Beschwerden vieler Patienten über die Tricks der Weißkittel verstehen. Dieses Krankenhaus stand wie viele andere wohl unter permanentem Zwang, zusätzliche Einnahmen zu generieren, um seine Kosten zu decken. Also hatten sie einen Störsender installiert, damit die Leute gezwungen waren, die fest installierten Festnetztelefone zu benutzen. Wahrscheinlich, wie üblich, für einen Wucherpreis. Doch in meiner aktuellen Situation war der Preis irrelevant. Selbst, wenn ein einziger Anruf hundert Euro kosten würde. Ein Zimmertelefon fand ich in meinem Raum leider nicht. Wahrhaft ein miserabler Service! Ich kam mir vor wie eine Gefangene, die von jedem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten war. Irgendwo in dieser Anstalt sollte es doch eine Möglichkeit geben, einen Anruf nach Außerhalb zu tätigen. Ich musste mich einfach auf die Suche begeben.
Nachdem ich meinen Klinikanzug gegen meine seriösere Kleidung ausgetauscht hatte, mit der ich mich auch in die Öffentlichkeit wagen durfte, betrachtete ich mich vor dem Spiegel. Das rote Jackett sollte dringend gebügelt werden. Meine Frisur war eine absolute Katastrophe. Ich sah aus wie eine Vogelscheuche. Was für eine Frechheit! Während ich bewusstlos war, hatte man mein Äußeres völlig vernachlässigt. Um solche Dinge schien man sich in dieser Klinik einfach nicht zu kümmern. Die Bewohner dieser Einrichtung wird dieses nachlässige Äußere zwar nicht stören, aber in diesem Zustand konnte ich mich nicht in die Öffentlichkeit wagen. Als Politikerin, die Deutschland repräsentierte, auf keinen Fall. Ich muss dahingehend etwas unternehmen. Bügeln würde ich notfalls selbst tun. Einen Frisör würde jedes halbwegs vernünftig organisierte Krankenhaus irgendwie auftreiben können. Was diese Einrichtung anging, da stand es nicht gerade zum Besten. Doch wenn man die Leute sanft unter Druck setzte - so richtig sanft - dann ging fast alles.
»Mensch Merkel!« Die Tür flog auf und eine der weißgekleideten Damen stand plötzlich im Raum. Das war kein Stil, so frech hereinzuplatzen. Ohne anzuklopfen! Solch ein Verhalten an den Tag zu legen, war äußerst fragwürdig und fast dekadent. Eine Kanzlerin hatte ein Recht auf Privatsphäre wie jeder Normalbürger auch. »Der Psychologe hat gerade Zeit, ich soll Sie zu ihm bringen!«
»Nun gut, dann gebe ich diesem Menschen eine Chance. Vielleicht kann er mir erklären, was hier vor sich geht.« Jetzt war ich gespannt, was der Mann mir zu sagen hatte. Weit größere Herausforderungen hatte ich schon gemeistert. Obwohl man mir häufig vorgeworfen hatte, ich würde stur an einer einzigen Lösung festhalten und wäre wie eine eiserne Lady, wäge ich jedoch stets alle möglichen Alternativen ab. Wenn mir Leute stolz ihren Plan A2 präsentierten, arbeitete ich längst an Plan B. Oder Plan B2 … Doch bevor man große Reden schwang, sollte man sich ein genaues Bild von der Lage verschaffen. Und das war jetzt mein Ziel.
Die Vorführdame klopfte an die Tür des Raums 210. Nach einer Weile öffnete sich langsam die Tür. Ein völlig verlebt wirkender Mann stand auf der Schwelle und blickte zu Boden. Oje! - ich hoffte, das war nicht der Psychologe, sondern sein Patient, der gerade die Therapiestunde beendet hatte.
»Unser Psychologe, Mensch Strang!«, stellte sie mir die armselige Figur vor. Also doch! Gerade im letzten Moment konnte ich meinen Unterkiefer am Herunterklappen hindern. Wenn jemand auf dieser Welt so etwas wie eine Seelsorge benötigte, dann war es dieser Mann. Es war allgemein bekannt, dass Psychologiestudenten dieses Fach wählten, um mit sich selbst zurechtzukommen und ihre eigenen Probleme zu verstehen. Diese Sitzung wird Zeitverschwendung sein, war mir in diesem Augenblick klar. Vielleicht half der Umstand manchen anderen, wenn er sah, dass es diesem Psychiater, offensichtlich noch viel schlechter als ihnen selbst ging. Um zu denken: im Vergleich zu ihm bin ich eigentlich ziemlich gut dran. Danach gingen sie therapiert hinaus. Eine andere Erklärung wäre der Gedanke: bevor ich mir noch so eine Sitzung zumute, reiße ich mich lieber zusammen und höre auf mit dem Jammern. Was sollte ich jedoch bei dem Mann? So ein Psychologe wird genauso wenig dem Land dienen wie dessen Kollegen und Vorgesetzte. Hier wäre ich selbst die Therapeutin. Mit hängendem Kopf bat er mich hinein und wies zu einer Ecke, in der eine Couch stand. Aus reiner Höflichkeit nahm ich Platz.
Er setzte sich mir gegenüber. Der Mann war auf den zweiten Blick noch wesentlich therapiebedürftiger. An weißen Streifen, die sich von seinem Handgelenk bis zum T-Shirt zogen, erkannte ich, dass er seine Arme geritzt hatte. Zwei davon waren rot und sehr frisch. Er war demnach noch aktiv, seine psychischen Schmerzen durch körperliche Qualen zu überdecken. Vielleicht hatten sie den armen Menschen gerade erst aus der Psychiatrie geholt. Warum setzte man mir einen Patienten als Psychiater vor? Mitleid hatte ich mit ihm - okay - aber ich war hier nicht die Betreuerin. Weder hatte ich ein psychiatrisches Beratungsgespräch nötig, noch half mir dies alles irgendwie weiter, um meine Sorgen um das mir liebgewonnene Land zu lindern oder mir die Befürchtungen zu nehmen, dass es um diese bewährte Demokratie schlecht stand.
»Worüber möchtest du mit mir Reden?« Der Mann setzte sich in den Sessel gegenüber, zog eine Rasierklinge aus der Tasche und begann, sich am Arm zu ritzen. Er begann im Handgelenk, zog die scharfe Klinge langsam seinen Unterarm aufwärts, worauf es purpurrot heraustropfte. Während er am Oberarm sein blutiges Werk fortsetzte, sprach er weiter: »Wir können über alles reden, was dich quält. Was martert dich gerade?«
Ich sprang auf, öffnete die Tür und lief hinaus. Wenn mich etwas gequält hatte, war es, ihm bei seiner Selbstverletzung zuzusehen. Ich bin zwar offen für Vieles. Jemand wie ihm eine Chance zu geben, gehörte dazu, aber in so einem Fall wäre er besser bedient, wenn er professionelle Hilfe bekäme, statt jemanden betreuen zu müssen. Es schüttelte mich, als ich daran dachte, was dieses leidgeplagte