Andreas Vieth

Einführung in die Philosophische Ethik


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bewusst zu machen. So wird auf Seiten der normativen Strategie die Reduktion der Ethik auf die Moral im Sinne allgemeiner und vielleicht auch universaler Normen gesehen. Die feinsinnige Vielfalt vieler spezifischer, graduell differenzierender und bisweilen nur partikularer moralischer Reaktionen entgeht dieser Strategie. Sie werden in den Bereich des persönlichen Geschmacks (nur subjektive Geltung) und der moralischen Irrelevanz (nur Bedeutendes gehört zur Moral) verbannt. Diese Folge dieser Strategie wird von der evaluativen Strategie als rigoristisch kritisiert. Doch die normative Strategie kann hierauf eine Antwort anbieten.

      [[Die Ethik als Lehre vom gelingenden Leben]] Im Bezug auf die normative Strategie der philosophischen Ethik kann man folgendes beobachten: Viele an Normen orientierte Philosophen identifizieren die Ethik mit der Moral (also dem Normativen), manche aber nicht. Ihnen bleibt der Begriff „Ethik“ dann im Baukasten der Philosophie übrig für die Bereiche des Evaluativen, die weniger verallgemeinerbar sind als die moralischen Normen. So kommen sie dann zu der folgenden Position: Die Ethik beschäftigt sich mit der Frage nach dem glücklichen Leben und diese Frage ist nicht die der Moral. Als Moralphilosoph beschäftigt man sich hingegen mit allgemeinverbindlichen Normen. Dennoch ist die Frage der Ethik durchaus sinnvoll, nur eben viel subjektiver, weil es ihr um Wertungen geht, nicht um Normen. Und in einer solchen Ethik ist das gelingende Leben dann zwar kein Bereich der Moral, aber es ist möglicherweise moralisch insofern relevant, als (1) Vorstellungen über das gelingende Leben zwar nicht sehr verallgemeinerbar sind, (2) aber, solange es keine relevanten Konflikte zwischen der Moral und dem Glück gibt, von jedem respektiert werden müssen. Dieser Respekt ist selbst eine moralische Pflicht im Sinne einer Norm.[< 35]

      Deutet man eine solche Ethik des gelingenden Lebens im Rahmen der normativen Strategien der philosophischen Ethik, dann kann man als Anhänger der normativen Strategie den Rigorismus-Vorwurf von Vertretern der evaluativen Strategie abwehren.

      Auf jeden Fall können moralische Vorstellungen mehr oder weniger verallgemeinerbar sein. Für die Frage nach der [[Reichweiten als systematisches Problem der Ethik]] Reichweite der Ethik ergeben sich hieraus Konsequenzen. Wer eine Ethik auf dem Evaluativen begründet, erreicht mit manchen moralischen Vorschriften nicht alle sondern wenige Personen, Handlungen, Situationen. Er hat also einen weiteren Begriff von ethischen Vorschriften und Empfehlungen, aber ihre Geltung erreicht weniger Adressaten. Wer eine Ethik auf dem Normativen begründet, erreicht mit allen moralischen Vorschriften immer alle Personen, aber nicht-verallgemeinerbare (evaluative) Vorschriften überschreiten den Bereich des Moralisch-Vernünftigen. Er hat also einerseits einen engeren Begriff von ethischen Vorschriften, andererseits erreichen die Vorschriften so mehr Adressaten.

      Es gibt also in der Ethik die normative und die evaluative Strategie und beide unterscheiden sich in der genannten Weise hinsichtlich der Reichweite der Moral – und wenn man Moral mit Ethik identifiziert auch in der Reichweite der Ethik. Man muss in einer vorurteilsfreien Ethik die Reichweiten von Vorschriften (und Empfehlungen) und von Adressaten begründet ausweiten und einschränken.

      2.3 Begründung

      Die Frage nach der Reichweite der Ethik hat also mindestens diese beiden Bedeutungen: Ist der Begriff der moralischen Begründung intern zu verstehen, oder gibt es externe Gründe? Ist er normativ zu deuten oder evaluativ? Letztlich geht es also in diesem Kapitel um die Beschaffenheit von philosophischen Begründungen im Bereich der moralischen Vorstellungen, insofern sie in Ethiken artikuliert und gedeutet werden. Und wie schon hervorgehoben wurde, kann diese Frage eigentlich weder in diesem Kapitel, noch in diesem Buch abschließend behandelt werden. (Leist 1995, Schroth 2001.)

      Es wurde zuvor jedoch schon betont, dass der Vernunft entstammende moralische Normen in der Geltung als universal und in der Bedeutung als allgemein gedeutet werden können und dass die vernünftige Begründung in der Ethik auch als Universalisierung verstanden wird. (Nakhnikian 1985, Narveson 1985.) Hier kommen erneut Fragen nach der Reichweite der Ethik ins Spiel, die den Bereich räumlicher Metaphern aber sprengen. [[Universalisierung: vier Dimensionen]] Universalisierung lässt sich folgendermaßen als Projekt ethischer Begründung verstehen: Eine Norm – wie das Lügenverbot – [< 36] gilt universal, wenn sie (1) für alle, (2) immer, (3) überall und (4) notwendig gilt.

      [[(1-3) räumliche, zeitliche, distributive Universalisierung]] Es deuten sich hier bezüglich (1) bis (3) räumliche und zeitliche Metaphern an und man könnte sich fragen, ob (1) und (3) nicht das gleiche sind. „Alle“ sind diejenigen, die letztlich „überall“ leben. Wenn jedoch die räumliche Ausdehnung der Geltung einer Norm über Kulturgrenzen hinweg reicht (also: überall), dann ist noch nicht festgelegt, für wen sie gilt (also: alle oder weniger). Man muss beispielsweise klären, ob Normen nur für vernünftige Personen oder auch für andere gelten, etwa Tiere oder Embryonen und Kinder, die in gewissem Sinne nicht, beziehungsweise noch nicht, vernünftig denken können.

      Neben der räumlichen und zeitlichen Reichweite der Ethik muss man also eine distributive unterscheiden: Wer und was gehört zur Menge derjenigen Dinge in der Welt, für die beziehungsweise denen gegenüber Normen, Empfehlungen und Werte gelten? Embryonen und Kinder sind „Entitäten“ in der Welt, die normalerweise zu vernünftigen Personen werden. Daher behandelt man sie antizipierend als solche. Es ist aber nicht ausgemacht, ob es nur Menschen gibt, die als Erwachsene vernünftig sind (möglicherweise gibt es im Weltall vernünftige, aber nicht-menschliche Personen). Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass es auch Tiere und Tierarten bzw. Pflanzen und Pflanzenarten gibt (und vieles mehr). Gehören sie mit in den Bereich des distributiven „für alle“ und „im Bezug auf alles Mögliche“? Die distributive Großzügigkeit mancher Ethiker führt jedoch zur Kontingenz der moralischen Relevanz. Die moralische Reichweite ist vielleicht aber faktisch bedingt. (Es heißt: Frauen und Kinder zuerst ins Rettungsboot. Für Männer, Tiere und Pflanzen heißt das: Zurücktreten! Ob man also faktisch ins Rettungsboot darf, ist an kontingente Bedingungen geknüpft.)

      Universalisierbarkeit als räumliche, zeitliche und distributive Inkontingenz wird vervollständigt durch ihren in der [[(4) Verstandesgemäße Universalisierung]] Vernunft liegenden Ursprung als letzter Inkontingenz (4). Inkontingenz bedeutet in diesem Kontext Nicht-Zufälligkeit beziehungsweise Unbedingtheit. Kategorische Normen – im Sinne eines Kantischen Lügenverbotes – sind in ihrer Geltung nicht an empirische oder sonstige Bedingungen (Kontingenzen) geknüpft, da ihr Ursprung in der Vernunft liegt: Man muss dem Terroristen die Wahrheit sagen. (Punkt!) Überlegungen, ob dieser oder jener Aspekt der Situation eine Ausnahme rechtfertigen, sind notwendig irrelevant. Wer sie dennoch für relevant hält, hat die Ethik nicht verstanden, weil er seine evaluativen „Befindlichkeiten“ für moralisch (normativ) relevant erachtet. Moralische Geltung konkurriert aber – so die These mancher Ethiker – nicht mit relevanten Gegengeltungen.[< 37]

      Für die Frage nach der Reichweite der Ethik ist eine kategorische Geltung deshalb wichtig, weil moralische Antworten durch sie durchschlagend werden (immer, überall und gegenüber jedem). So ist die bundesdeutsche Rechtsprechung der Auffassung, dass unser moralisches Verständnis der Menschenrechte es ausschließt, dass wir in einer Situation des 11. September 2001 das Flugzeug mit den [[Auch Terroristen sind Menschen]] Terroristen und den entführten unschuldigen Geiseln von Staats wegen abschießen, um Menschenleben zu retten. Menschenrechte gelten kategorisch, sie sind durchschlagend, weil man ihre Geltung als unausweichlich erlebt, sofern man sie richtig versteht.

      Will man eine Ethik formulieren, muss man deutlich machen, ob es in einer der vier genannten Bedeutungen – räumlich, zeitlich, distributiv und vernünftig – inkontingente Geltung gibt. Eine Theorie der Begründung muss daher auch in diesem Sinne über ihre eigene Reichweite Auskunft geben. Der moralische Wert des [[Pluralismus vs. Inkontingenz]] Pluralismus, auf den man heute im politischen Kontext abhebt, stellt jede Inkontingenz moralischer Geltungsansprüche grundsätzlich in Frage. In der philosophischen Ethik hat sich diese Auffassung bisher weniger durchgesetzt als in der Rechts- und politischen Philosophie. Pluralismus in Normfragen hängt aber letztlich von der Pluralität in der Praxis des Wertens- und Bewertens ab, sofern man in der Ethik der evaluativen Strategie konsequent folgt.