Helmut Lauschke

Fahnen und Tränen nahmen kein Ende


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unten und blickte mit verweintem Gesicht in die verweinten Gesichter ihrer beiden Kinder. Der Zug kam ins Rollen, und Frau Kroll winkte mit dem weißen Taschentuch aus dem Abteilfenster den Zurückgebliebenen auf dem Bahnsteig zu.

      Heinrich und Wolfgang machten sich mit der neuen Umgebung schnell vertraut. Sie besuchten die Ställe, übten die Kraftprobe an den Hälsen der jungen Kälber, bestaunten die Frischlinge im Stroh des Schweinestalls, setzten sich auf den federnden Sitzteller des Lanztraktors und drehten am Lenkrad hin und her, schoben die Wagendeichseln nach beiden Seiten und wurden auf den großen Leiterwagen mit aufs Feld genommen, wo die Ernte mit dem Schneiden des Getreides eingesetzt hatte. Hier verfolgten sie mit größtem Interesse, wie der Traktor den Getreideschneider hinter sich her zog, der die Körner aus den Ähren schüttelte, die Körner durch ein dickes ‘U’-förmiges Rohr auf den mitgezogenen Körnerwagen schüttete und das Stroh zu festen Ballen presste, schnürte und in Abständen hinten ausstieß. Männer luden mit Dreizinkgabeln die Ballen auf die Leiterwagen, die hoch bepackt von dem Zweigespann zur Scheune gefahren und dort entladen wurden. Die Spreu klebte am schwitzigen Fell der Pferde, dass sie nach der Arbeit durch einen Teich gingen, um die Spreu abzuwaschen. Der Teich war in der Mitte tief genug, dass dort nur der Pferdekopf aus dem Wasser herausragte. An einem Nachmittag der zweiten Woche stellte ein Gutsarbeiter vor den neugierigen Gesichtern der anderen Arbeiter an Heinrich die Frage, ob er den Mut habe, auf dem Pferderücken durch den Teich zu reiten. Er wollte die Mutprobe bestehen, und der Arbeiter half ihm aufs Pferd. Als das Pferd tiefer und tiefer durch den Teich schritt, und das Wasser ihm bis zur Brust reichte, bekam Heinrich doch seine Bedenken, wie weit das Wasser noch an ihm hochsteigen würde. Krampfhaft hielt er sich an der Pferdemähne fest und war hoch erleichtert, als das Pferd am anderen Ende schnaubend aus dem großen Teich herausstieg.

      Die beiden Jungen besuchten die kleine Schule im benachbarten Dorf, die gut eine halbe Stunde zu gehen vom Gut entfernt war. Die Gutsfrau, die sich gleich zu Beginn Tante Ali nennen ließ und sagte, dass die Jungen den Gutsherrn Onkel Siegfried nennen können, hatte vorher mit dem Dorflehrer gesprochen, der ganz einverstanden war, dass die Kölner Jungen in Ostpreußen etwas lernen sollten. Die Schule war für die Jungen, und das Schulgebäude war ein kleiner Flachbau mit einem Ziegeldach und einem Raum, in dem die Erst- bis Drittklässler die vorderen Zweisitzpulte und die wenigen Viert- bis Sechstklässler die hinteren Zweisitzpulte einnahmen. Der Unterricht begann um halb acht morgens und fand montags, mittwochs und freitags statt, weil der Lehrer an der Schule im nächsten Dorf die Mädchen an den anderen Wochentagen unterrichtete. Er kam mit dem Fahrrad angefahren und trug das runde Parteiabzeichen mit den gekreuzten Haken am rechten Jackenrevers und an besonders warmen Tagen am Hemd unterhalb des Hemdkragens. Während der Lehrer das Rad gegen die Mauer stellte und die volle Aktentasche vom Gepäckträger nahm, stellten sich die Jungen in einer Reihe auf. Der Lehrer grüßte den deutschen Gruß, der von den Schülern deutsch erwidert wurde. Deutsche Zucht und deutsche Ordnung, darauf legte der Herr Dorflehrer den größten Wert. Er konnte böse werden, wenn diese Zucht und Ordnung nicht eingehalten wurde. “Deutsche Zucht und deutscher Fleiß, das hebt uns Deutsche über andere Völker.” Nach diesem Appell, der von den Schülern als morgendliche Ermahnung verstanden werden sollte, schloss der Lehrer das kleine Klassenzimmer auf, und die Schüler verteilten sich an ihre Pulte. Er ließ sich die Hefte mit den Hausaufgaben zeigen und verteilte die ersten Belehrungen, wenn die Schrift unordentlich und das Rechnen fehlerhaft war. Bekam die Liederlichkeit in der Heftführung die Note “haarsträubend”, die nach dem Tagesappell nicht geduldet werden konnte oder durfte, dann wurde dem Schüler gleich das Nachsitzen zur nötigen Verbesserung aufgebrummt. Trotz der Strenge war der Dorflehrer ein guter Pädagoge, der den Lehrberuf liebte und den Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte. Er erklärte es immer wieder, warum das Lernen so wichtig ist. Er sagte, dass ein Volk nicht überleben kann, wenn die Kinder nicht mit Hingabe und Fleiß lernen. Eine hohe Kultur wie die deutsche lässt sich nur durch eine hoch entwickelte Intelligenz und den unerlässlich hohen und opferbereiten Einsatz für Volk und Vaterland halten.

      So gaben sich die beiden Kölner Jungen beim Bewältigen der Hausaufgaben im hohen Ostpreußen alle Mühe, die dann von Tante Ali auf die Richtigkeit im Schreiben und Rechnen und auf die Ordentlichkeit der Schrift hin nachgesehen wurden. In bleibender Erinnerung blieb der Unterricht im Freien neben der kleinen Schule, wenn die Sonne auf das Schuldach brannte und den Klassenraum dermaßen erhitzte, dass der Schweiß auf den Stirnen des Herrn Dorflehrers und der Schüler stand. Da konnte die Konzentration unter dem schattigen Baum doch belebt und angehoben werden und das umso mehr, wenn der Lehrer Geschichten aus deutschen Sagen und aus der deutschen Geschichte erzählte. Das machte er so spannend und eindrucksvoll, dass die Kinder die Bedeutung des deutschen Bodens, auf dem sie unter dem Baum saßen, durch den direkten Kontakt noch besser verstanden und die Finger während der Erzählung tief in diesen Boden bohrten, als sei ihnen die Ahnung aufgegangen, dass dieser Boden es wert ist, ihn zu halten, zu pflegen und zu verteidigen. Die Schule endete für die Erst- bis Drittklässler nicht später als zwölf und für die Darüberklässler um eins. Nach Beendigung des Unterrichts und der Ermahnung, die Hausaufgaben sorgfältig zu machen, prüfte der Lehrer, ob die Schreibpulte aufgeräumt und die Stühle ordentlich untergesetzt waren. Die Schüler stellten sich draußen in einer Reihe auf, und der Lehrer, nachdem er die Türe des Klassenzimmers abgeschlossen hatte, verabschiedete sie mit dem deutschen Gruß bei vorgestrecktem rechten Arm, was die Schüler in gleicher Weise erwiderten. Dann ging der Lehrer auf sein Fahrrad zu, machte die gefüllte, abgegriffene Aktentasche auf dem Gepäckträger fest und fuhr auf dem Fahrrad mit derselben Energie davon, mit der er am frühen Morgen gekommen war. Eine zusätzliche Hausaufgabe wurde, die weniger mit dem Lernen, aber auch mit dem Fleiß zu tun hatte, die roten Vogelbeeren von den Bäumen zu pflücken und in großen Blechdosen zu sammeln und zur Schule außer dem Ranzen zu bringen. Diese Beeren, so erklärte es der Herr Dorflehrer, würden zur Herstellung von Wundmedizin gebraucht in einer Zeit, als die Deutschen außer den vielen Toten auch viele Verwundete zu beklagen hatten.

      In den sechs Monaten gab es viele Erlebnisse, die in der Erinnerung haftengeblieben sind: Heinrich hatte ein Huhn einzufangen und zu schlachten. Schon das Einfangen im Hühnerstall war eine schwierige Prozedur, weil das Huhn ständig auf und ab und zu den Seiten flatterte. Er packte es schließlich an den Flügeln und hielt es so über dem Hackklatz, wie es ihm einige Male gezeigt wurde. Er trennte mit einem Beilschlag den Kopf vom Hals. Doch dann ließ er vor Schreck die Flügel zu früh los. Das geköpfte Huhn flatterte blutspritzend in die Höhe und stürzte wenige Meter vom Hackklotz entfernt tot zu Boden.

      Der andere Vorfall betraf das Schlachten eines Ebers. Die Vorrichtungen waren getroffen, und der Schlächter traf mit seinem Werkzeug auf dem Gutshof ein. Der voll ausgewachsene Eber, der ihm zugeführt wurde, roch die Situation, stieß dem Schlächter hart gegen das Schienbein, büxte aus und lief ans andere Ende des weitläufigen Hofes. Es dauerte eine Stunde, bis der Schweinskoloss unter dem Aufgebot mehrerer Gutsarbeiter eingefangen und an den Beinen gefesselt wurde, um wehrlos geschlachtet zu werden. Der Schlächter frakturierte den Stirnschädel mit einem kräftigen Schlag auf den Bolzen und durchtrennte die Halsadern, um das Blut ablaufen zu lassen, das den Eimer fast füllte.

      Was noch eine Gravur im Hirn setzte, und Jahre später als ein böses, schicksalsträchtiges Omen begriffen wurde, war das schwere Unwetter, das an einem Wochenende über dem Gutshof und der weiteren Umgebung in den frühen Abendstunden niederging. Da fuhr der Blitz in einen der beiden hochstämmigen Eichen vor dem Eingang des Herrenhauses und schlug in Sekundenschnelle einen dicken Ast ab, der mit krachendem Getöse zu Boden fiel. Der starken ‘deutschen’ Eiche war der ‘rechte Arm’ abgeschlagen worden. Es war ein Glück, dass das Haus, die Scheunen und Ställe unversehrt geblieben sind und die Ernte noch rechtzeitig eingefahren war.

       Abend

      Schütz dich vor der Sonne, der Mond tut dir nichts an. Du solltest den Tag vermeiden und in der Nacht die Dinge tun, die du zum Leben brauchst. Dann ist der Raum auch groß genug, den du zum Atmen brauchst.

      Es wird so bleiben, wie es ist, ein Schlafen gibt es nicht. Es irrt der Mensch bei Tage, und in der Nacht verwirrt er sich.

      3. Zwischenstation Dresden