Helmut Lauschke

Fahnen und Tränen nahmen kein Ende


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es voller über die gewohnten Maßen.

      Mutter Kroll holte ihre beiden Söhne nach sechs Monaten ab. Doch ging es nicht nach Köln zurück, wo das Haus durch eine Bombe zerstört worden war. Es ging nach Dresden. In einer weiter östlich gelegenen Stadt in der Oberlausitz konnte der Vater als Gynäkologe eine kleine Frauenklinik betreiben, deren vorheriger Betreiber als Arzt an der Front verschollen war. Aufnahme fanden Heinrich und Wolfgang im Haus der Tante Kroll, deren verstorbener Mann Tierarzt gewesen war. Das Haus befand sich auf dem Weißen Hirsch, einem vornehmen Wohnviertel für die Besserbegüterten. Straße und Haus lagen dicht am Wald mit Rotbuchen und Birken, in dem es auch Holunderbüsche gab. Die Mahlzeiten entbehrten der reichhaltigen ostpreußischen Küche mit der guten Milch, der Landbutter, dem Fleisch und Schinken, der Wurst und dem schmackhaften Bauernbrot. Es wurde auf ‘Sparflamme’ gekocht, und die warmen Mahlzeiten bestanden überwiegend aus Gemüse- oder Maggisuppen mit den wenigen herumschwimmenden Fettaugen. Aufgrund der Waldnähe und der vielen Holunderbüsche, wurden die beiden Jungen am Morgen in den Wald geschickt, um Holunderbeeren zu pflücken. Dieser natürliche Reichtum war die Ursache, dass es nahezu jeden zweiten Tag Holundersuppe gab. Von diesen Beeren wurde so reichlicher Gebrauch gemacht, dass die dunkelviolette Farbe von den Lippen kaum mehr wegzukriegen war und beim Toilettengang der Stuhl die dunkle Farbe über die Wochen des Aufenthaltes auf dem Weißen Hirsch fast unverändert beibehielt. Die Straßen der Nachbarschaft waren zudem noch mit alten Linden gesäumt, dass zur Zeit der Blüte die Natur zum Sammeln der Lindenblüten einlud und zu allen Tages- und Nachtzeiten den Lindenblütentee bescherte, der mit den kleinen Süßstofftabletten gesüßt wurde, von denen die beiden Jungen anderthalb, aber nicht mehr als zwei Tabletten in die gefüllte Tasse bekamen. Da wurde das Auflösen der Tabletten mit dem kurzen Aufschäumen mit Interesse verfolgt.

      Der Unterschied zu Köln war der, dass in den Nächten durchgeschlafen wurde, ohne von Sirenen geweckt und von Bomben belästigt zu werden. Das hatte in jener Zeit der Weiße Hirsch mit Ostpreußen gemeinsam, wenn auch die Frage unter den Erwachsenen mehr und mehr gedacht und auch ausgesprochen wurde, wie lange die Nachtruhe in Dresden noch dauern würde, denn mit einer Verschlechterung war nach der Lage an den Fronten und der Lage im Allgemeinen zu rechnen. Diese Rechnung wurde jedoch aufgrund der inneren Bedenklichkeit und Unsicherheitsgründe nicht nach außen getragen, sondern für sich behalten beziehungsweise hinter den abgemagerten und sorgenvollen Gesichtern im Denkstübchen versteckt gehalten. Denn die Aktivitäten bezüglich der Denunzierung hatten enorme Fortschritte gemacht, und die Macht und Willkür der allgegenwärtigen Gestapo war allgemein bekannt und gefürchtet. Da wollte man sich zur Magermilch auf Karten nicht noch weitere Unannehmlichkeiten aufhalsen, die oft fürchterlich ins Auge gingen. Die Fahnen mit dem Symbol der gekreuzten Haken wurden unvermindert hochgehalten, was durchaus den Plakaten an den Litfasssäulen entsprach, auf denen das “Die Räder rollen für den Sieg” zu lesen war. Die Frage war eine offene, doch die Antwort blieb versteckt: Ob der Glaube der Parole folgte beziehungsweise noch folgen konnte, oder ob die Menschen überhaupt an so etwas wie Sieg noch glaubten? Da war eher der Unglaube von den Gesichtern der Erwachsenen in Dresden abzulesen, was selbst den Kindern nicht entging. Auf den Straßen wurde jedenfalls fleißig marschiert, ob in braunen oder anderen Uniformen, und die symbolträchtige Fahne mit den gekreuzten Haken flatterte je nach Wind und Windrichtung nicht nur vorneweg, sondern auch zwischendurch und hinterher. Die Hoffnung ist halt ein Vogel ohne Füße, der nirgends aufsetzen kann, egal ob sie echt, vorgetäuscht oder eine ganz andere war. Denn die Alternative mit der Katastrophe war einfach nicht ausdenkbar. Und zum Denken mit der nötigen Portion Vernunft war es ohnehin zu spät, auch wenn Menschen sagen, dass es zum Denken nie zu spät ist. Doch sprachen zu jener Zeit die Frontmeldungen eine andere und immer klarere Sprache, die mehr und mehr, fast linear, ins Undenkbare gingen.

       Wenn

      Wenn du wieder auf den Beinen bist, dich ans Fenster stellst, weil du sehen willst, was auf der Straße passiert, dann blickst du in das Durcheinander, siehst, wie Menschen aneinander vorübergehen, ohne sich zu sehen.

      Wenn du wieder auf den Beinen bist, doch die Treppen weder rauf noch runter gehen kannst, dann ist es besser, du schreibst einen Brief.

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