Jess Pedrielli

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zwinkerte ihm zu.

      „So von Besessenem zu Besessenem."

      „Ich bin kein Besessener! Und bestimmt nicht so durchgeknallt wie du!", entrüstete sich Mingus.

      Den Vergleich mit einem geistesgestörten Stinker mit schuppiger Haut wollte er nicht auf sich sitzen lassen.

      „Aber sicher doch“, widersprach ihm das Reptil entschieden.

      „Du bist vollkommen besessen vom Leben. Nichts auf der Welt bedeutet dir mehr. Seltsam, nicht wahr? Dabei zählst du zu den Menschen, deren Leben erst beginnt, wenn sie abends die Augen schließen", gluckste das Krokodil vergnügt.

      Es machte eine Bewegung, die Mingus alarmierte. Er befürchtete sogleich, dass ein neues Hochdruckgebiet in unmittelbarem Anmarsch war. Er brauchte dringend einen Notfallplan, falls der nächste Gasangriff nicht mehr allzu lange auf sich warten ließ. Mingus kniff das Gesicht nachdenklich zusammen und schob die Unterlippe vor. Das war sein Denkergesicht. Oder vielmehr eines davon. Prompt kam ihm die rettende Idee! Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er stand auf, lief zu einem Schrank, der sich just in diesem Moment im Raum materialisierte, und zog aus diesem eine Giftgasmaske hervor.

      Erfreut zog er sie über und setzte sich so gewappnet auf den Stein zurück. Das Krokodil schüttelte sich vor Lachen.

      „Ich bin gern vorbereitet“, gab Mingus mit dumpfer Stimme von sich.

      „Und da du mich für besessen hältst und Giftgasattacken deine Form von Exorzismus zu sein scheinen ...“ , er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.

      Das Krokodil kugelte vor Lachen auf dem Boden.

      „Steht dir! Du siehst viel besser aus als vorher,“ sagte es, als es sich wieder beruhigt hatte.

      Mingus gab ein Schnauben von sich.

      „Ich bin nicht der Exorzist – ich bin hier FÜR dich, um dir zu helfen, Antworten zu finden, Darth Vader Junior“, setzte das Krokodil hinzu.

      „Deshalb träume ich dich?“, fragte Mingus verwundert.

      Das Krokodil stützte den Kopf in die Pranke und grinste breit.

      „Sag mal, findest du es eigentlich normal, sich im Traum des Träumens bewusst zu sein wie du gerade? Du weißt, dass wir beide uns in deinem Traum befinden und wunderst dich kein bisschen, dass das im Grunde recht ungewöhnlich ist?“

      Mingus zuckte mit der Schulter. Nein, es wunderte ihn nicht wirklich. Er hätte nicht sagen können warum nicht. Für ihn war dieser Umstand ein Bestandteil seines Träumens, seit er sich erinnern konnte. Allerdings hatte er gehört, dass das nicht allen Menschen so ging.

      „Diese Fähigkeit den Traum als solchen zu durchschauen ist der Anfang eines Weges, deines Weges“, klärte das Krokodil ihn lächelnd auf.

      „Diese Fähigkeit ist wie ein Muskel, den jeder besitzt, aber nicht jeder trainiert. Du hast vor sehr langer Zeit begonnen diesen Muskel zu trainieren und das war eine Menge Arbeit, kann ich dir versichern! Woran du dich wahrscheinlich kaum erinnern wirst, oder?!“, fragte das Krokodil neugierig.

      Mingus schüttelte verneinend den Kopf. Er hatte keine Erinnerungen an irgendein langes Muskeltraining.

      „Man nennt diese Form auch luzides Träumen, wenn man sich während des Traums bewusst ist, dass man träumt. Das luzide Träumen erlaubt einem auch den Trauminhalt nach Belieben zu steuern und zu verändern. Mit dem Erwerb dieser Fähigkeit beginnt der Aufbruch in unbekanntes Neuland. Hier beginnt der Wirkungskreis der magischen Kräfte des Lebens, die nichts anderes sind als die Wissenschaft von morgen.“

      Die Augen des Krokodils leuchteten auf. Es setzte sich auf.

      „Dadurch werden Erfahrungen möglich, die Grenzen sprengen und vieles in Frage stellen oder sogar gänzlich über den Haufen werfen, was du im Wachzustand als Wirklichkeit erlebst, weil sie im Widerspruch zu ihr stehen können."

      Es schaute Mingus begeistert an.

      „Im Grunde gibt es keine Wirklichkeit, verstehst du, sondern nur Wahrnehmung. Alles existiert in einem grenzenlosen Feld von Möglichkeiten, das entdeckt und erschaffen werden will. Aber bis du das begreifen wirst, ist es noch ein gutes Stück Arbeit. Allerdings eine Arbeit, die heute Nacht für dich beginnen kann, wenn du möchtest - reicht dir das als Begründung für meine Anwesenheit in deinem Traum?“

      Das Krokodil rieb seine Pranken aneinander und warf Mingus einen erwartungsvollen Blick zu. Mingus tat, was er am besten konnte und grübelte über die Worte des Krokodils in Ruhe nach. Wie zuverlässig konnten die Aussagen eines furzenden Krokodils schon sein? überlegte er argwöhnisch.

      „Heute ist die Nacht, in der du eine spannende Reise beginnen kannst, wenn du tatsächlich bereit dafür bist. Es hängt nur davon ab, wie viel du wirklich über das Leben wissen möchtest.“

      Das war leicht zu beantworten.

      „Alles“, erwiderte Mingus ohne zu zögern.

      Das Krokodil wiegte sachte seinen verbeulten Kopf von Seite zu Seite.

      „Na schön, ich sollte ehrlich zu dir sein. Überlege es dir gut, worauf du dich da einlässt! Das wird nämlich kein Spaziergang, Mingus. Das Unternehmen ist auch nicht ganz ungefährlich. Du bist im Körper eines Kindes. Dieser Weg wird dich mit Angst und Verwirrung konfrontieren, mit Schmerz, mit Verlorenheit, mit harten Zeiten und schwierigen Herausforderungen, mit Verlusten und Isolationsgefühlen. Dies alles könnte dich überfordern.“

      Das Krokodil hielt inne.

      „Andererseits könntest du auch daran wachsen. Je mehr du erfährst, desto mehr wird dieses Wissen dich von Ängsten befreien, aber dich auch von anderen Menschen trennen. Die eifrigsten Schüler bekommen die schwierigsten Aufgaben, sagt man, aber ob das immer so eine Gunst ist? Ich will, dass du weißt, was dich erwartet und du keine leichtfertige Entscheidung triffst. Denn es ist ein relativ einsamer Weg durch einen unbekannten Dschungel“, gab das Krokodil zu bedenken.

      Mingus bemerkte den besorgten Tonfall des Krokodils.

      „Aber ich habe doch so viele quälende Fragen in mir, die mich in den Wahnsinn treiben und wenn du Antworten darauf hast, dann ist das meine einzige Chance. Was habe ich denn sonst für eine Alternative? Niemand, den ich kenne, weiß etwas über diese Dinge.“

      Das Krokodil nickte bedächtig. Es wirkte trotz seiner Sorge insgeheim erfreut.

      „Du hältst dich also an deine Vereinbarung und bestätigst deinen Lebensentwurf?"

      Es wartete erst gar keine Antwort ab.

      „Wunderbar! Ich bin froh, dass ich nicht umsonst gekommen bin. Es hätte ja sein können, dass du es dir in der Zwischenzeit anders überlegt hast.“

      „Heh? Meinen Entwurf?“, wiederholte Mingus verwirrt.

      „Was soll das denn sein?"

      Er setzte die Maske ab, um besser zuhören zu können. Außerdem wurde ihm unter dem Gummi allmählich heiß. Vom Krokodil schien momentan keine Gefahr auszugehen.

      „Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Schon sind wir mittendrin!“, rief das Krokodil zufrieden aus. Flink sprang es auf und ließ sich neben Mingus nieder.

      „Ich werde dir heute Nacht eines der ersten Geheimnisse des Lebens verraten. Es ist im Übrigen nur deshalb ein Geheimnis, weil du dich nicht mehr daran erinnern kannst, nicht weil es geheim ist. Aber eben dies ist meine Aufgabe, dir zu helfen, dich zu erinnern und zwar an alles. Aber fangen wir am Anfang an.“

      Das Reptil räusperte sich ausgiebig. Dann legte es los.

      „Also, alle Menschen in dieser Welt haben eine besondere Aufgabe vor sich. Sie liegt darin, herauszufinden, wer sie in Wirklichkeit sind. Oder vielmehr was. Denn sie sind sehr viel mehr als sie ahnen. Diese Suche nach ihrem wahren Wesen gilt für jede einzelne ihrer zahllosen Existenzen, die sie hier verbringen.“

      Mit einem Seitenblick auf Mingus sagte es:

      „Du hast schon tausende von Leben hinter dir und noch Millionen von Leben vor dir, genau wie die anderen auch. Mal warst du einer von den Guten, mal warst du einer