Yasmin Azgal

Die kleine Elfe Samra


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mit etwas Glänzendem umwickelte Regale auf Rollen herausstellten. Fast unscheinbar saß dort – zwischen den ganzen Behältnissen – ein Mann am Boden.

      „Hallo!“, grüßte die kleine Elfe. Doch sie erhielt keine Antwort. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Augen des Mannes geschlossen waren. Sie betrachtete ihn nun genauer. Er hatte einen friedlichen Ausdruck in seinem etwa fünfzig Jahre alten Gesicht. Sein dunkles, fettig schimmerndes Haar fiel ihm in runden Locken in die Stirn, sein unregelmäßig langer Bart lies seine knochigen Wangen und sein spitzes Kinn nur erahnen. Er trug ein kariertes Hemd, eine dünne graue Jacke darüber und eine lange schwarze Hose. Seine Füße waren nackt und die Kleidung so schmutzig wie der Boden, auf dem er saß.

      „Hey, wer bist denn du?“, rief er plötzlich, die Augen halb geöffnet. Sein Gesichtsausdruck hatte alles Friedliche verloren. Resignation und Gleichgültigkeit waren an seine Stelle getreten.

      „Hallo, ich bin Samra. Und wie heißt du?“

      „Rudolf.“

      „Wie geht es dir, Rudolf?“

      „Sieht man das nicht?“

      „Du siehst müde aus. Was machst du hier hinter dem Supermarkt?“

      „Ich bin oft um diese Zeit hier. Da gibt es was zu essen und ich kann mich ausruhen.“

      „Die Frau vorhin hat gesagt, das Essen gibt es im Supermarkt. Gibt es das auch hier draußen?“

      „Für mich schon, nur hier draußen, denn ich habe kein Geld.“

      „Und wo ist das Essen?“

      „Da drin.“ Der Mann zeigte auf die eisernen Behälter.

      In diesem Moment öffnete sich eine doppelflügelige Tür, die nur von innen betätigt werden konnte. Eine junge Frau rollte ein metallenes Gestell mit mehreren gefüllten Kartons in den Hinterhof. Als würde sie den Mann nicht sehen, ging sie an ihm vorbei und blieb vor einer der eisernen Rolltonnen stehen. Dann kippte sie den Inhalt der Kartons in die Tonne und kehrte so schnell zurück ins Innere des Gebäudes, wie sie gekommen war.

      Samra schwebte nun über dem geöffneten Behälter und warf einen Blick hinein. Ein Berg von bunten Dingen, die sie gerade noch in den Regalen des Supermarktes gesehen hatte, lag nun zerstreut in der Tonne. Der Mann hievte seinen Körper hoch und holte eine grüne Getränkekiste aus einer Ecke des Hinterhofs. Mit ihrer Hilfe erklomm er die hohe volle Tonne und fischte ein paar Dinge heraus.

      „Warum gibt dir die Frau die Sachen nicht gleich?“, fragte Samra verwirrt.

      „Weil sie nicht darf. Das ist Müll, der gehört in die Mülltonne.“

      „Was ist Müll?“

      „Sachen, die niemand mehr braucht.“

      „Aber du brauchst sie doch!“

      „Aber ich kann sie mir nicht kaufen.“

      Samra verstand nicht.

      „Diese Lebensmittel sind abgelaufen“, fügte der Mann hinzu, während er einen der ergatterten Becher öffnete und den Inhalt schlürfend austrank. Die im Becher verbliebenen Reste holte er mit einem Finger heraus und lutschte diesen ab. „Die nimmt nicht einmal mehr der Sammeldienst für die Armen“, schmatzte er. Als der Mann die Verwunderung der kleinen Elfe sah, erklärte er weiter: „Es gibt andere Märkte, wo die Leute, die ganz wenig Geld haben – was sie natürlich beweisen müssen – fast abgelaufene Lebensmittel kaufen können. Und es gibt Armenküchen, die ebenfalls diese gerade noch guten Sachen verkochen und verschenken.“

      Die Elfe grübelte ein wenig. „Habe ich das richtig verstanden? Die Menschen mit Geld kaufen ihr Essen im Supermarkt – aber nur dort, wo wenig Geld verlangt wird. Die Leute mit weniger Geld kaufen ihr Essen woanders, aber das Essen stammt aus denselben Supermärkten – nur eben fast abgelaufen. Und die Leute, die gar kein Geld haben, bekommen Essen von den Armenküchen oder essen ‚Müll‘.“

      „Genau!“, sagte der Mann, sichtlich erfreut, dass sich die Fischkonserve aus seiner Beute mit einem Zug an einer Lasche öffnen lies. Dann fügte er hinzu: „Es gibt aber auch einige, die Geld haben und den Müll aus Protest essen, weil es sich um genießbare Lebensmittel handelt.“

      „Und wer bestimmt, wer wie viel Geld hat?“, fragte Samra immer noch durcheinander.

      „Ach, das versteht niemand so recht: Die Firmen, die Banken, der Staat, das Schicksal, man selbst. Wer weiß das schon?“

      „Wie war es denn bei dir?“

      „Bei mir?“ Rudolf blickte nun von einem Stück Weißbrot hoch, das er in das Öl der Fischkonserve getaucht hatte. „Ich hab mir das so ausgesucht. Frag′ die Menschen, sie werden es dir bestätigen.“ Er grinste, doch seine Augen blickten wieder zu Boden.

      „Warum hast du dich für dieses Leben entschieden?“

      „Weil ich die Freiheit liebe. Und sieh nur“, Rudolf breitete beide Hände aus, „der Tisch ist reich gedeckt!“

      „Bist du glücklich?“, fragte Samra.

      „Ja. Glücklicher als es sich so manch anderer jemals vorstellen kann.“

      „Dann danke ich dir für deine Auskunft! Habe noch einen schönen Abend!“, verabschiedete sich die kleine Elfe von Rudolf.

      „Gerne, den werde ich haben! Die Bäckereien schmeißen in einer guten halben Stunde ihren Tagesüberschuss weg!“, rief er ihr nach, als sie den dunklen Hof bereits verlassen hatte.

       Auf der lauten Straße

      Tief in Gedanken versunken flog die kleine Elfe Samra auf eine breite, laute Straße zu. Eine schier endlos lange Karawane blecherner Vehikel mit vier dick bereiften Rädern brummte vor sich hin. Hinter den stark spiegelnden, halbtransparenten Flächen erkannte man nur mit Mühe gelangweilte, genervte oder gar grimmige Gesichter. Der ohrenbetäubende Lärm wurde von einem ebenso unangenehmen Gestank begleitet, der wohl aus den qualmenden Rohren am Hinterteil der Vehikel stammte und Samra fast die Luft zum Atmen nahm. Verblüfft stellte die kleine Elfe fest, wie viel Raum so ein blechernes rollendes Ding einnahm, dass jedoch in den meisten dieser Fortbewegungsmittel nur eine einzige Person saß. Das musste sie sich genauer ansehen.

      „Hallo“, brüllte die Elfe und winkte einer Frau durch eine der seitlichen Flächen ihres Vehikels zu. Die Frau hörte sie erst, als Samra zusätzlich zu ihren Rufen gegen die Scheibe klopfte. Die Tür, so hatte die kleine Elfe festgestellt, lies sich auch durch festes Ziehen an dem Hebel unterhalb des Sichtfensters nicht öffnen. Die Fensterscheibe rückte nun um ein Stück nach unten. Durch den Spalt konnte Samra eine rothaarige Frau mittleren Alters sehen, deren grüne Augen sie verblüfft ansahen.

      „Ja bitte? Was möchtest du?“, sagte sie, zwischendurch nach vorne blickend, prüfend, ob sich das Auto vor ihr bereits weiterbewegt hatte.

      „Ich heiße Samra. Darf ich ein wenig mit dir sprechen?“

      Die Frau blickte genervt, zögerte, machte dann eine einladende Handbewegung, die die kleine Elfe aufforderte, einzusteigen. Plötzlich ließ sich die Tür öffnen und Samra setzte sich neben die Frau.

      „Warum ließ sich die Tür vorhin nicht öffnen?“

      „Weil ich sie versperrt hatte.“

      „Warum?“

      „Damit mich niemand beraubt oder mir sonst etwas zustößt, während ich im Stau oder an der Ampel warte.“

      „Was meinst du damit?“

      Die Kolonne bewegte sich und die Frau fuhr ein Stück weiter.

      „Naja, eine Frau abends alleine im unversperrten Auto, da kann Gott weiß was passieren! Ein fremder Mann kann blitzschnell die Tür aufreißen und mir meine Tasche mit allen Wertsachen stehlen. Oder jemand entführt und vergewaltigt mich!“