r
Tot oder lebendig
25. Mai 1944.
Die Jagd auf Marschall Tito
Edition Zeitpunkte
Impressum:
Titel des Buches: „Tot oder lebendig. 25. Mai 1944. Die Jagd auf Marschall Tito“.
Erscheinungsjahr: 2021.
Inhaltlich Verantwortlicher:
Edition Zeitpunkte
Kai Althoetmar
Am Heiden Weyher 2
53902 Bad Münstereifel
Deutschland
Text: © Kai Althoetmar.
Titelfoto: Titos Stab in Drvar. Foto: Max J. Slade, Imperial War Museum (gemeinfrei).
Verlag und Autor folgen der bis 1996 allgemeingültigen und bewährten deutschen Rechtschreibung.
Die Recherchen zu diesem Buch erfolgten eigenfinanziert und ohne Zuwendungen oder Vergünstigungen Dritter.
1. Der Vorabend. Schach und Fallschirmseide
Seit Tagen war es unruhig. Gerüchte, Meldungen gingen um. Immer neue überraschende Züge in diesem Schachspiel aus Information und Desinformation machte irgendwer. Mal warfen die Deutschen falsche Köder, dann wieder fielen Häppchen wahrer Nachrichten ab. Würde er „Tiger“ so ein Futter zuwerfen, der Hund würde neurotisch, der treue Elsäßer, sein geliebter Schäferhund, den er den Deutschen abgenommen hatte. Jetzt lag das treue Tier in der Baracke und döste.
Was sollte er noch glauben? Er, der Marschall, der Führer im Volksbefreiungskampf, die Hoffnung Hunderttausender von Kämpfern in seinen Reihen, Millionen jugoslawischer Männer und Frauen, die keinen König, keinen Hitler und keinen Poglavnik über sich wollten. Heute abend würde es wohl nichts mit seinem geliebten Schachspiel. Edvard muß warten, Edvard Kardelj, sein Freund, mit dem er sonst in Bastasi König und Dame kreuzte, in jenem anderen Höhlenversteck bei dem trostlosen Bauerndorf, sechs Kilometer von hier.
Unten im Tal steht der Jeep, mit dem er und Edvard gekommen sind. Heute abend würden sie bleiben und hier übernachten. Heute abend ist Feiern angesagt, hier in Drvar, seinem Hauptquartier, dem Zentrum, von dem das kommende, das neue Jugoslawien ausgehen soll. Morgen würde er 52 sein. Die meiste Zeit davon Kampf, Untertauchen, Durchhalten. Beobachten, hinhören, mißtrauisch bleiben, sich bedeckt halten, das hat ihn überleben lassen, in der Diktatur des Königs, in Moskau im Exil, im Krieg. Diesem verdammten Krieg der Deutschen. Dem Krieg, der die große Chance ist.
Er zieht die Vorhänge aus Fallschirmseide beiseite, schaut durch das Fenster über die Veranda hinweg. Hinter seinem Schreibtisch, an der Holzwand der Baracke, hängt eine britische Militärkarte Jugoslawiens. Er hat genau im Kopf, wo seine Leute stehen und wo der Feind steht. Er blickt in den frühen Abendhimmel und ins Tal. Durch die Berge ziehen kurze Gewitter, das Flüßchen Unac rauscht durch das Tal. Unten zwitschern noch die Vögel aus Gebüsch und Gesträuch, wie von Vivaldi komponiert. Noch einmal öffnet sich der Wolkenvorhang für letzte Garben der wegdämmernden Frühlingssonne. Ist etwas im Anzug? Er, der Marschall, weiß nicht, was kommt.
2. Nach Drvar
Am Waldrand warnen rote Schilder: „Vorsicht, Minen!“ Im Wald arbeiten Holzfäller mit Rückepferden. Der blaue Kleinbus, in den wir uns in Bosnisch Petrovac mit Rucksäcken, Zelt, Campinggeschirr und allerhand in Mostar erworbenen Souvenirs, Honigtöpfen, Sirupflaschen und hausgemachten Schnäpsen gequetscht haben, verbindet Banja Luka mit Bosnisch Grahovo. Bei der Fahrt hinauf ist mir, als müsse ich irgendwie mit Armen und Beinen Schubhilfe leisten, den Berg hinunter meldet sich vor jeder Kurve mindestens ein Fuß, der mit auf die Bremse treten will. Beim Dorf Koluniæ fesselt eine Partisanengedenkstätte meine Aufmerksamkeit. Eine Steintafel listet die toten Tito-Kämpfer auf. Das Jahr 1943 ragt als Sterbejahr heraus. Das Steinrelief, eingefaßt von einem Mäuerchen, zeigt im Hintergrund Zivilisten, im Vordergrund Partisanen, die auf behelmte deutsche Soldaten schießen. Die Deutschen haben Panzer und Halbkettenfahrzeuge, die Partisanen nur Gewehre. Der rote Stern ist verwittert. Zum sozialistischen Realismus lassen sich auch die zerschossenen Häuser im Ort zählen. Zerstört im letzten jugoslawischen Bürgerkrieg, gewissermaßen dem Rückspiel zu 1941-45. Über die Wiesen zieht ein Schäfer mit Hund und Herde.
Am Rückspiegel des Fahrers baumelt ein gelber hölzerner Weihnachtsbaum in Scherenschnittoptik. In der linken Hälfte hat die Windschutzscheibe Risse, rechts noch keine. Vor Oštrelj, auf 1.030 Meter Höhe, wieder ein Schild. „Vorsicht, Steinschlag!“ Das Dorf ist fast völlig verwaist. Parallel zur Paßstraße verläuft die alte Steinbeisbahn, die Prijedor mit Knin verband. Der bayerische Unternehmer Otto Steinbeis exportierte von 1902 bis 1918 per Schmalspurbahn Holz aus dem waldreichen k.u.k.-Bosnien. Der Zug, den Tito und seine Partisanen noch im Krieg nutzten, steht einsam unter einer Holzüberdachung im Wald. Aus dem Radio tönt Hardrockmusik.
Drvar. Das einzige Hotel im Ort, ein rosarot gestrichener Kasten mit Wellblech überdachter Terrasse, ist auf Tage ausgebucht. Eine Hochzeitsgesellschaft hat sich im „Drvar“ einquartiert. Der Rezeptionist beschreibt uns den Weg zu einer anderen Unterkunft, der Titova folgen, vor der Tankstelle links hoch auf die M 14.2., immer die Ausfallstraße entlang, bis zur nächsten Tankstelle. „Madeira“ heiße das Restaurant, der Wirt habe ein paar Zimmer.
3. Der Angriff beginnt
Hügelland, Berg und Tal, wo man hinschaut: die Ausläufer des 1.706 Meter hohen Lunjevaèa, das Jasenovac-Gebirge im Norden. In allen anderen Himmelsrichtungen rahmen wellige Hügel wie Ausbuchtungen einer hingeworfenen Decke den abgelegenen Ort ein. Nur drei unzulängliche Straßen und eine Schmalspurbahn führen aus dem Niemandsland der näheren Umgebung in das bosnische 2.000-Seelen-Städtchen. Es lebt von der Holzwirtschaft. Die meisten Menschen arbeiten, wenn kein Krieg ist, im Sägewerk oder in der Zellstoffabrik. Die Bombardierungen der Deutschen haben den Großteil der Einwohner fliehen lassen. Im Mai 1944 leben nur noch rund 200 Menschen in Drvar. Jetzt aber ist die Stadt wieder voller junger Gesichter. Es sind die zahlreichen Teilnehmer des antifaschistischen Jugendkongresses, der in den vergangenen Tagen hier stattfand.
Im Ort werden die letzten Vorbereitungen zur Feier von Titos 52. Geburtstag getroffen. Die Deutschen wissen nichts von diesem Umstand. Eine Kennkarte bei der Zagreber Polizei weist den 12. März 1892 als Geburtstag des Josip Broz aus. Quellen des italienischen Innenministeriums verweisen auf den 7. Mai als Geburtstag. Wegen der geplanten Feier ist Broz, Kampf- und Parteiname Tito, in der Dämmerung mit seinem Genossen Edvard Kardelj aus Bastasi gekommen, wo sie - was die Deutschen nicht wissen - versteckt den Tag verbringen. Mit dem Slowenen Kardelj, 34, Lehrer, intellektueller Nickelbrillenträger, Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ), des engsten Machtzirkels der Partisanen, arbeitet Tito dort in einer anderen Höhle. Eine Kompanie des Begleitbataillons, das das Partisanenhauptquartier schützt, ist in der Nähe stationiert.
Am Abend des 24. Mai 1944 gibt Tito einen Empfang für die engsten Mitarbeiter seines Stabes und die Vertreter der Militärmissionen der Briten, Amerikaner und Sowjets. Darunter sind Randolph Churchill, der Sohn Winston Churchills, der Amerikaner Colonel George Kraigher, Abgesandter von General Ira Clarence Eaker, Oberbefehlshaber der Alliierten Luftstreitkräfte des Mittelmeeres, und sein Landsmann Lieutenant Robert Crawford, der den nächsten Tag nicht überleben wird.
Die Stabsleute und Missionsangehörigen sitzen gesellig bei einem Festessen zusammen, anschließend wartet eine Filmvorführung. Gezeigt wird „Soja“, ein mit dem Stalinpreis dekorierter Film über die sowjetische Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die 1941 im Alter von 18 Jahren von den deutschen Besatzern in Rußland hingerichtet wurde. Die Nacht bleibt Tito ausnahmsweise im Hauptquartier der Partisanen und kehrt nicht nach Bastasi zurück. Die Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag am nächsten Tag erfordern schon früh seine Anwesenheit. Er schläft in einer der beiden Holzbaracken vor dem Eingang zur Höhle. Sein Schäferhund „Tiger“ und Davorjanka Paunoviæ, genannt Zdenka, 23, eine temperamentvolle Serbin, sind mit ihm in der Hütte. Zdenka ist seine Sekretärin - und seine Geliebte.
Die