und ließ ihn in Ungewißheit zurück, wie am Nachmittag in der Drahtseilbahn. Sie dachte: Dies wird ihm zeigen, was für ein guter Einfall das war, und was er alles mit mir anfangen könnte; oh, es ist herrlich! Ich habe ihn, er gehört mir. Nun, hinterher, wich sie zurück, aber alles war so süß und neu, daß sie zögerte, weil sie alles auskosten wollte.
Unvermittelt fröstelte sie. Zweitausend Fuß tiefer unten sah sie wie ein Halsgeschmeide und Armband von Lichtern Montreux und Vevey liegen und weiter entfernt, als blasses Schmuckgehänge, Lausanne. Irgendwo von unten erklang leise Tanzmusik. Nicoles Verstand arbeitete jetzt ganz klar und kühl; sie versuchte, die Gefühle ihrer Kindheit unter die Lupe zu nehmen, genau so bewußt, wie sich ein Mann nach der Schlacht betrinkt. Aber sie hatte immer noch Angst vor Dick, der bei ihr stand und sich in charakteristischer Weise an den Eisenzaun lehnte, der das Hufeisen umgab; und das veranlaßte sie, zu sagen: »Ich erinnere mich noch, wie ich im Garten auf dich wartete und mein ganzes Herz auf den Händen trug wie einen Korb mit Blumen. So jedenfalls erschien es mir – ich fand mich liebreizend – wie ich so wartete, um dir den Korb zu überreichen.«
Er atmete über ihrer Schulter und drehte sie nachdrücklich zu sich herum; sie küßte ihn mehrere Male; jedesmal wurde ihr Gesicht groß, wenn es ihm nahe kam, ihre Hände lagen auf seinen Schultern.
»Es regnet stark.«
Plötzlich dröhnte es von den Weinbergen jenseits des Sees; man schoß mit Kanonen nach Hagelwolken, um sie zu zerstreuen. Die Lichter des Promenadenweges gingen aus und wieder an. Dann brach das Unwetter los; erst stürzte es vom Himmel herab, dann ergoß es sich mit doppelter Gewalt in Strömen von den Bergen und flutete brodelnd durch Straßen und Steingräben; es brachte einen erschreckend schwarzen Himmel mit sich, wildgezackte Blitze und ohrenbetäubende Donnerschläge, während unheilbringende Wolken in Fetzen am Hotel entlang jagten. Berge und See verschwanden – das Hotel duckte sich inmitten von Tumult, Chaos und Finsternis.
Mittlerweile hatten Dick und Nicole das Vestibül erreicht, wo Baby Warren und die drei Marmoras sie besorgt erwarteten. Es war wundervoll, aus dem nassen Sprühregen zu kommen, die Türen hinter sich zuzuschlagen und lachend und vor Erregung zitternd dazustehen, Sturm in den Ohren und Regen auf den Kleidern. Im Tanzsaal spielte das Orchester gerade einen Straußwalzer, fröhlich und mitreißend.
... Sollte ausgerechnet Doktor Diver eine Geisteskranke heiraten? Wie konnte das geschehen? Wann hatte es begonnen?
»Wollen Sie nicht wieder herkommen, wenn Sie sich umgezogen haben?« fragte Baby Warren nach eingehender Musterung.
»Außer ein paar Hosen habe ich nichts zum Wechseln mit.«
Als er sich in einem geliehenen Regenmantel zu seinem Hotel hinaufkämpfte, mußte er andauernd höhnisch vor sich hinlachen.
»Das große Los – jawohl! Grundgütiger! Sie haben beschlossen, einen Arzt zu kaufen. Nun, es ist besser, sie halten sich an jemand, den sie in Chicago haben.« Da seine Härte ihm gegen den Strich ging, ließ er Nicole Gerechtigkeit widerfahren, indem er sich vergegenwärtigte, daß nichts sich jemals so taufrisch angefühlt hatte wie ihre Lippen, daß die Regentropfen auf ihren mattglänzenden Porzellanwangen Tränen glichen, die sie um ihn vergoß ... Die Stille, die dem Sturm folgte, weckte ihn gegen drei Uhr, und er ging ans Fenster. Nicoles Schönheit kam über den welligen Abhang zu ihm herauf, drang in sein Zimmer, raschelte gespenstig in den Vorhängen ...
... Am nächsten Morgen stieg er zweitausend Meter hoch auf den Rocher de Naye und amüsierte sich darüber, daß sein Bergführer vom vorhergehenden Tag seinen dienstfreien Tag dazu benutzte, um ebenfalls eine Kletterpartie zu machen.
Dann stieg Dick den ganzen Weg bis nach Montreux hinab, um im See zu schwimmen, und kam rechtzeitig zum Dinner ins Hotel zurück. Dort erwarteten ihn zwei Briefchen.
»Ich bereue den gestrigen Abend nicht – es war das Schönste, was ich je erlebt habe, und selbst wenn ich Sie niemals wiedersehen würde, Mon Capitaine, wäre ich glücklich, daß es geschah.«
Das war ziemlich entwaffnend – der drohende Schatten von Dohmler wich, und Dick öffnete den zweiten Umschlag:
»Lieber Doktor Diver: Ich rief Sie an, aber Sie waren nicht da. Dürfte ich Sie um einen großen Gefallen bitten? Unvorhergesehene Umstände rufen mich nach Paris zurück, und ich kann Zeit sparen, wenn ich über Lausanne reise. Können Sie Nicole bis nach Zürich mitnehmen – da Sie doch am Montag zurückfahren – und sie im Sanatorium absetzen? Oder ist es zuviel verlangt?
Mit bestem Gruß
Beth Evan Warren.«
Dick war wütend – Fräulein Warren hatte gewußt, daß er sein Fahrrad dabei hatte, doch hatte sie ihren Brief so abgefaßt, daß eine Weigerung unmöglich war. Uns verkuppeln! Liebe Verwandtschaft und das Warrensche Geld!
Er irrte sich; Baby Warren hatte keineswegs solche Absichten. Sie hatte Dick mit nüchternen Blicken gemustert; sie hatte ihn mit dem verdrehten Maßstab der Englandfreundin gemessen und hatte ihn unzulänglich befunden – trotz der Tatsache, daß sie ihn nett fand. Aber ihr war er zu »intellektuell«, und sie reihte ihn ein in eine Kategorie mit Leuten von schäbiger Eleganz, die sie früher in London kennengelernt hatte. Er war zu temperamentvoll, um wirklich gesellschaftsfähig zu sein. Sie wußte nicht, wie sie ihn mit ihrem Begriff von Aristokraten in Einklang bringen sollte.
Dazu kam, daß er widerspenstig war – sie hatte beobachtet, wie er ein halbes dutzendmal ihrer Unterhaltung auswich und sich hinter seine Augen zurückzog, in der merkwürdigen Art, die manche Leute an sich haben. Ihr hatte Nicoles freies, ungezwungenes Wesen als Kind nicht gefallen; und jetzt hatte sie sich bewußt daran gewöhnt, sie als ein rettungslos verlorenes Wesen zu betrachten; jedenfalls war Doktor Diver nicht die Sorte Arzt, die sie sich in ihrer Familie vorstellen konnte.
Sie wollte sich seiner nur in aller Einfalt als Bequemlichkeit bedienen.
Aber ihre Bitte hatte die Wirkung, daß Dick ihr die Absicht unterstellte. Eine Eisenbahnfahrt kann eine schreckliche, eine traurige oder eine komische Angelegenheit sein; sie kann eine probeweise Flucht darstellen; sie kann ein Vorgeschmack auf eine andere Reise sein, so wie irgendein Tag mit einem Freund lang sein kann, angefangen mit dem Gefühl der Eile am Morgen bis zur Wirklichkeit des gemeinsamen Hungers und des gemeinsamen Essens. Dann kommt der Nachmittag, an dem die Reise welkt und stirbt, sich aber am Ende wieder belebt. Dick stimmte es traurig, Nicoles kärgliche Freude zu sehen; dennoch war es ein Trost für sie, in das einzige Heim zurückzukehren, das sie kannte. An diesem Tag tauschten sie keine Zärtlichkeiten, aber als er sich vor dem traurigen Eingangstor am Zürichsee von ihr trennte und sie sich umwandte und ihn ansah, wußte er, daß ihr Problem von nun an für sie beide ein gemeinsames war.
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