Der junge Mann war ein Italiener mit Augen wie ein ausgestopfter Hirsch; das Mädchen war Nicole.
Einen Augenblick waren die beiden Kletterer außer Atem von der Anstrengung. Als sie sich, lachend und die Engländer in die Ecken drängend, niederließen, sagte Nicole: »Hello.« Sie sah entzückend aus; Dick stellte sofort eine Veränderung fest und erkannte alsbald, daß ihr feines, seidiges Haar kurzgehalten war wie das von Irene Castle und sich in Locken bauschte. Sie trug einen pastellblauen Pullover und einen weißen Tennisrock – sie wirkte wie ein junger Maienmorgen, und es haftete ihr keine Spur von der Klinik mehr an.
»Uff!« japste sie. »Huuh, dieser Aufpasser! Man wird uns an der nächsten Haltestelle festnehmen. Doktor Diver – Conte de Marmora.«
»Ach, du lieber Himmel!« keuchte sie und befühlte ihre neue Frisur. »Meine Schwester hat Fahrkarten für die erste Klasse gekauft – das ist bei ihr Prinzip.« Sie tauschte Blicke mit Marmora und rief: »Dann merkten wir, daß die erste Klasse das kleine Abteil hinter dem Wagenführer ist – mit Vorhängen gegen Regen versehen, so daß man nicht hinaussehen kann. Aber meine Schwester ist sehr würdevoll –« Wieder lachten Nicole und Marmora in jugendlicher Vertrautheit.
»Wohin wollen Sie?« fragte Dick.
»Nach Caux. Sie auch?« Nicole sah auf sein Kostüm. »Ist das Ihr Rad, das vorne verstaut worden ist?«
»Ja. Montag will ich hinunterfahren.«
»Und mich nehmen Sie auf der Lenkstange mit, ja? Im Ernst – wollen Sie? Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.«
»Nein, ich werde Sie auf den Armen hinuntertragen«, protestierte Marmora heftig. »Ich fahre Sie auf Rollschuhen, oder ich lasse Sie fallen, und Sie schweben langsam wie eine Feder hinunter.«
Welche Seligkeit in Nicoles Zügen – wieder eine Feder zu sein statt eines Bleigewichts, dahinzugleiten statt sich zu schleppen. Es war eine Freude, sie zu beobachten – zeitweilig war sie affektiert schüchtern, posierte, schnitt Grimassen und gestikulierte – dann wieder fiel ein Schatten über sie, und die Erinnerung an vergangenes Leid durchströmte sie bis in die Fingerspitzen. Dick wünschte sich fort von ihr; er fürchtete, sie an eine Welt zu gemahnen, die gottlob hinter ihr lag. Er faßte den Entschluß, im anderen Hotel abzusteigen.
Als die Drahtseilbahn kurz anhielt, bewegten sich die Neulinge erregt und gespannt mitten im Blau des Äthers. Es handelte sich jedoch lediglich um einen geheimnisvollen Grüßeaustausch zwischen dem Führer des nach oben und dem Führer des nach unten fahrenden Wagens. Dann ging es höher und höher über einen Waldweg und eine Bergschlucht – dann wieder über einen Abhang, der von den Fahrgästen aus gesehen bis zum Himmel hinauf voller Narzissen war. Die Leute in Montreux, die auf den Plätzen am See Tennis spielten, wirkten jetzt wie Stecknadelköpfe. Etwas Neues lag in der Luft: Frische – Frische, die durch Musik Gestalt annahm, als sie das Orchester im Hotelgarten spielen hörten, während die Bahn nach Glion hineinglitt.
Als sie in die Bergbahn umstiegen, wurde die Musik von dem Rauschen des Wassers übertönt, das aus dem hydraulischen Kessel abgelassen wurde. Unmittelbar über ihnen lag Caux, wo die tausend Fenster eines Hotels in der Abendsonne erglühten.
Aber diese Fahrt nach oben war anders – eine Lokomotive mit robusten Lungen schob die Reisenden in Schraubenlinien in die Runde, bergauf, bergab; sie ratterten durch tiefhängende Wolken, und einen Augenblick lang konnte Dick durch den sprühenden Dampf der steil aufwärtsfahrenden kleinen Hilfslokomotive Nicoles Gesicht nicht mehr wahrnehmen. Böige Winde begleiteten sie, während das Hotel nach jeder Spiralwindung größer wurde, bis sie zu ihrer größten Überraschung auf dem Gipfel des Sonnenscheins angelangt waren.
In der Verwirrung der Ankunft, als Dick seinen Rucksack umgetan hatte und den Bahnsteig entlang ging, um sein Rad zu holen, war Nicole neben ihm.
»Steigen Sie nicht in unserem Hotel ab?« fragte sie.
»Ich muß sparen.«
»Wollen Sie zum Dinner zu uns kommen?« Hier folgte eine Unstimmigkeit über das Gepäck. »Dies ist meine Schwester – Doktor Diver aus Zürich.«
Dick verbeugte sich vor einer großen, selbstsicheren Dame von fünfundzwanzig Jahren. Sie flößte Respekt ein und bot gleichzeitig Angriffspunkte; so jedenfalls wirkte sie auf ihn, und er mußte an andere Frauen mit blütengleichen Mündern denken, die zum Anbeißen waren.
»Ich werde nach dem Dinner vorbeikommen«, versprach Dick. »Erst muß ich mich akklimatisieren.«
Er entfernte sich, sein Rad vor sich her schiebend, und fühlte, daß Nicole ihm mit den Blicken folgte, spürte ihre hilflose erste Liebe und merkte, wie diese sich seinem Innern verband. Er stieg den dreihundert Meter hohen Abhang zu dem anderen Hotel hinauf, nahm ein Zimmer und wusch sich, ohne sich an die dazwischenliegenden zehn Minuten zu erinnern, lediglich in einem trunkenen Gefühl froher Erregung, in der er Stimmen vernahm, unwichtige Stimmen, die nichts davon wußten, wie sehr er geliebt wurde.
IX
Sie warteten auf ihn, und es war, als fehlte ihnen etwas; immer noch war er das ausschlaggebende Element; Fräulein Warren und der junge Italiener trugen ihre frohe Erwartung ebenso zur Schau wie Nicole. Der Salon des Hotels, ein Raum mit märchenhafter Akustik, war zum Tanzen ausgeräumt, doch befand sich darin eine kleine Galerie mit Engländerinnen einer gewissen Altersstufe, mit Halsbändern, gefärbten Haaren und rosagrau gepuderten Gesichtern, und mit Amerikanerinnen einer gewissen Altersstufe, mit schneeweißen Perücken, schwarzen Kleidern und kirschroten Lippen. Fräulein Warren und Marmora saßen an einem Ecktisch – Nicole vierzig Meter weit von ihnen entfernt am andern Ende des Raumes, und als Dick hereinkam, hörte er ihre Stimme:
»Können Sie mich hören? Ich spreche ganz natürlich.«
»Tadellos.«
»Hallo, Doktor Diver.«
»Was bedeutet das?«
»Denken Sie sich, die Leute in der Mitte der Tanzfläche können nicht hören, was ich sage, aber Sie können es.«
»Ein Kellner hat uns darauf aufmerksam gemacht«, sagte Fräulein Warren. »Man kann von einer Ecke zur anderen hören – es ist wie Rundfunk.«
Es war aufregend oben auf dem Berg, wie in einem Schiff auf See. Alsbald gesellten sich Marmoras Eltern zu ihnen. Sie behandelten die beiden Warrens mit Hochachtung – Dick schloß daraus, daß ihr Vermögen etwas mit einer Bank in Mailand zu tun hatte, die ihrerseits etwas mit dem Vermögen der Warrens zu tun hatte. Aber Baby Warren wollte mit Dick sprechen, wollte mit ihm sprechen aus dem Drang heraus, der sie allen neuen Männern unstet entgegentrieb, als befände sie sich auf einem straff gespannten Seil und zöge in Betracht, daß sie eigentlich so schnell wie möglich an sein Ende gelangen sollte.
»– Nicole hat mir erzählt, daß Sie sie mit betreut und eine Menge zu ihrer Genesung beigetragen haben. Was ich nicht begreife ist, was wir nun tun sollen – im Sanatorium haben sie sich so unklar ausgedrückt, sie haben mir nur gesagt, sie sollte natürlich und vergnügt sein. Ich wußte, daß die Familie Marmora hier ist, darum bat ich Tino, sich an der Drahtseilbahn mit uns zu treffen. Und man sieht, was dabei herauskommt – das erste ist, daß sie ihn am Wagen entlang von einem Abteil zum andern kriechen läßt, als wenn sie beide übergeschnappt wären –«
»Das war durchaus normal.« Dick lachte. »Ich halte es für ein gutes Zeichen. Sie haben sich voreinander großtun wollen.«
»Aber wie soll ich das wissen? Ehe ich es mich versah, fast vor meinen Augen, ließ sie sich in Zürich die Haare abschneiden, nach einem Bild in ›Vanity Fair‹.«
»Das ist ganz in Ordnung. Sie ist eine Schizoide – wird immer eine Exzentrikerin sein. Daran ist nichts zu ändern.«
»Was ist das?«
»Was ich Ihnen sagte – eine Exzentrikerin.«
»Ja, aber wie soll man wissen, was exzentrisch und was übergeschnappt