sehr gut entwickelten Verstand, darum ließ er sie etwas Freud lesen, nicht zu viel, und es interessierte sie sehr. Tatsächlich wird sie von uns allen hier verhätschelt. Aber sie ist zurückhaltend«, fügte er hinzu; er zögerte: »Wir hätten gern gewußt, ob sie in ihren letzten Briefen an dich, die sie selbst in Zürich aufgab, irgend etwas geschrieben hat, was Aufschluß über ihren Gemütszustand und über ihre Zukunftspläne geben könnte.«
Dick überlegte.
»Ja und nein – ich kann die Briefe herbringen, wenn du es willst. Sie scheint voller Hoffnung und in normaler Weise lebenshungrig zu sein – ja beinahe romantisch. Manchmal spricht sie von der ›Vergangenheit‹, wie Leute es tun, die im Gefängnis waren. Man weiß nie, ob sie auf das Verbrechen oder die Gefangenschaft oder die Erfahrung als solche anspielen. Eigentlich bin ich in ihrem Leben nichts anderes als eine ausgestopfte Figur.«
»Natürlich, ich verstehe deine Lage genau, und ich drücke dir von neuem unsere Dankbarkeit aus. Darum wollte ich dich sprechen, bevor du sie siehst.«
Dick lachte.
»Glaubst du, sie wird mit einem Hechtsprung auf mich losgehen?«
»Nein, das nicht. Aber ich wollte dich bitten, sehr behutsam zu sein. Du besitzt Anziehungskraft auf Frauen, Dick.«
»Dann helfe mir Gott! Also, ich werde behutsam und abstoßend sein – ich werde jedesmal Knoblauch essen, bevor ich zu ihr gehe, und mir Bartstoppeln stehen lassen. Ich werde sie zwingen, Deckung zu nehmen.«
»Nein, nicht Knoblauch!« sagte Franz ernsthaft. »Du wirst doch deiner Karriere nicht schaden wollen? Aber vielleicht scherzt du nur.«
»– und ich kann ein bißchen hinken. Und jedenfalls gibt es da, wo ich wohne, keine richtige Badewanne.«
»Du scherzt wirklich.« Franz entspannte sich oder nahm wenigstens die Haltung eines Menschen an, der sich entspannt. »Nun erzähle mir von dir und deinen Absichten.«
»Ich habe nur eine Absicht, Franz, und zwar die, ein guter Psychologe zu werden, ja vielleicht der bedeutendste, der je gelebt hat.«
Franz lachte vergnügt, aber er sah, daß Dick diesmal nicht spaßte.
»Das ist sehr gut – und sehr amerikanisch«, sagte er. »Für uns ist es schwerer.« Er stand auf und trat an das französische Fenster. »Ich stehe hier und blicke auf Zürich – dort ist der Turm des Großmünsters. In seiner Gruft liegt mein Großvater. Jenseits der Brücke ruht mein Vorfahr Lavater, der in keiner Kirche begraben sein wollte. Nicht weit davon befindet sich das Standbild eines anderen Vorfahren, Heinrich Pestalozzis, und das von Alfred Escher. Und über allem ist immer Zwingli – ich sehe mich ständig einer Ehrenhalle voller Helden gegenüber.«
»Ja, ich verstehe.« Dick erhob sich. »Ich habe nur das Maul vollgenommen. Man fängt doch immer von neuem an. Die meisten Amerikaner in Frankreich sind ganz wild darauf, nach Hause zu fahren; ich nicht – ich beziehe noch bis Schluß des Jahres Militärlöhnung, wenn ich nur an der Universität Vorlesungen höre. Eine großartige Regierung, die ihre künftigen großen Männer kennt! Dann fahre ich auf einen Monat nach Hause und besuche meinen Vater, und dann komme ich zurück – mir ist eine Stellung angeboten worden.«
»Wo?«
»Bei eurer Konkurrenz – Gislers Klinik in Interlaken.«
»Laß die Finger davon«, riet ihm Franz. »Ein Dutzend junger Leute war im Verlauf eines Jahres dort. Gisler selbst leidet an manischen Depressionen, seine Frau und ihr Liebhaber leiten die Klinik – aber du verstehst, das ist natürlich vertraulich.«
»Wie steht's mit deinem Plan für Amerika?« fragte Dick leichthin. »Wir wollten nach New York gehen und eine mit allen Schikanen ausgerüstete Anstalt für Billionäre gründen.«
»Das war Studentengeschwätz.«
Dick speiste mit Franz, seiner jungen Frau und einem kleinen Hund, der nach verbranntem Gummi roch, in ihrem Häuschen am Rande des Parks. Er fühlte sich irgendwie niedergedrückt, nicht durch die Atmosphäre maßvoller Einschränkung, auch nicht durch Frau Gregorovius – mit ihr hatte er im voraus gerechnet –, sondern durch die plötzliche Einengung des Horizonts, mit der sich Franz anscheinend abgefunden hatte. Für ihn zeichneten sich die Grenzen der Askese anders ab – er konnte sie als Mittel zum Zweck ansehen, ja als ruhmvollen Zweck in sich, aber es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, daß man sein Dasein absichtlich auf den Zuschnitt eines ererbten Anzuges einengen konnte. Den häuslichen Gesten Franzens und seiner Frau fehlte es an Anmut und Temperament, wenn sie sich in beengtem Raum bewegten. Die Nachkriegsmonate in Frankreich und die Abwicklungen, bei denen man mit amerikanischer Großzügigkeit mit Geld um sich warf, hatten Dicks Lebensauffassung beeinflußt. Auch hatten Männer und Frauen viel von ihm hergemacht, und vielleicht war, was ihn zum Mittelpunkt der großen Schweizer Uhr zurückgebracht hatte, die intuitive Erkenntnis, daß dies einem ernsthaften Mann nicht eben gut bekam.
Er erreichte, daß Käthe Gregorovius sich bezaubernd vorkam, während ihn der alles durchdringende Blumenkohlgeruch zunehmend beunruhigte. Gleichzeitig verabscheute er sich wegen dieses ersten Stadiums einer ihm bis dahin unbekannten Oberflächlichkeit.
»Mein Gott, bin ich letzten Endes doch wie die anderen?« fragte er sich in Gedanken, als er des Nachts nicht schlafen konnte. »Bin ich wie die anderen?«
Da war unzureichendes Material für einen Sozialisten, aber gutes Material für einen von der Sorte, die auf der Welt die ungewöhnlichsten Aufgaben zu erfüllen hat. In Wahrheit durchlebte er seit einigen Monaten die Trennung vom Land der Jugend, in der es sich entscheidet, ob es sich für etwas zu sterben lohnt, woran man nicht mehr glaubt. In den toten, fahlen Stunden in Zürich, wenn er über eine aufflammende Straßenlaterne hinweg in eine fremde Vorratskammer starrte, pflegte er den Vorsatz zu fassen, gut zu sein, gütig zu sein, tapfer und weise zu sein, aber es war alles sehr schwierig. Er wollte auch geliebt werden, wenn er dazu Zeit finden würde.
V
Die Veranda des Mittelgebäudes erhielt ihr Licht aus den offenen französischen Fenstern, ausgenommen dort, wo die schwarzen Schatten kahler Wände und die phantastischen Schatten von Eisenstühlen unmerklich in ein Gladiolenbeet hinabglitten. Unter den Gestalten, die zwischen den Zimmern hin und her huschten, war Fräulein Warren zunächst nur hin und wieder sichtbar, um dann, als sie Dick bemerkte, völlig in Erscheinung zu treten. Als sie die Schwelle der Glastür überschritt, fing ihr Gesicht den letzten Lichtschein aus dem Zimmer auf und trug ihn mit sich nach draußen. Sie bewegte sich nach einem Rhythmus – diese ganze Woche klang ihr ein Singen im Ohr, Sommergesänge von feurigen Himmeln und wilden Schatten, und seit Dicks Eintreffen war das Singen so laut geworden, daß sie am liebsten eingestimmt hätte.
»Guten Tag, Captain«, sagte sie, ihre Augen mit Mühe von seinen lösend, so als wären sie fest miteinander verhaftet gewesen. »Sollen wir uns hier draußen hinsetzen?« Sie blieb stehen und ließ ihre Blicke eine Weile umherschweifen. »Der reine Sommer.«
Eine Frau war ihr gefolgt, eine untersetzte Frau mit einem Umschlagetuch, und Nicole stellte Dick vor: »Señora –«
Franz entschuldigte sich, und Dick rückte drei Stühle zusammen.
»Was für eine wunderbare Nacht«, sagte die Señora.
»Muy bella«, stimmte Nicole zu, dann zu Dick: »Bleiben Sie lange hier?«
»In Zürich bleibe ich lange, wenn Sie das meinen.«
»Dies ist wirklich die erste richtige Frühlingsnacht«, ließ sich die Señora vernehmen.
»Für immer?«
»Mindestens bis Juli.«
»Ich gehe im Juni von hier fort.«
»Der Juni ist hier ein schöner Monat«, bemerkte die Señora. »Sie sollten den Juni über hierbleiben und erst im Juli fahren, wenn es zu heiß wird.«
»Wohin gehen Sie?« fragte Dick