Es blieb nur Zeit für schmutzige Binden und Tücher um Kopf, Arm oder Bein. Und obwohl einige der preußischen Kameraden humpelten, nahm unser Rückzug wieder Fahrt auf. Die kräftigsten der Männer voran, um den anderen den Weg durch Hecken und halb niedergerissene Mauern zu bahnen. Jede Flucht, die wir passierten, gab Schutz vor den Kugeln unserer Verfolger. Es dauerte daher auch nicht lange und die Musketen hinter uns schwiegen. Ich sah zum Himmel, was ich niemandem empfehle, wenn sich dort Kanonengeschosse befinden, denen man ohnehin nicht mehr ausweichen kann. Wir hatten aber Glück, denn die französische Artillerie richtete ihr Feuer nach Nordosten, während wir fast genau Richtung Norden flohen.
Irgendwann wurde ich gewahr, dass weder Hecken noch schützende Gebäude vor unserem Weg lagen. Wir blieben eng zusammen, ich etwa in der Mitte der kleinen Kolonne. Ein Feld lag vor uns, mit hochstehendem Getreide, in das wir eindrangen. Ein paar Wochen später und wir hätten nach der Ernte keinerlei Sichtschutz gehabt. Die Männer gingen wieder auseinander, jeder suchte sich seinen Weg durch die kräftigen Halme. Scharfe Blätter schnitten mir in die Hände, aber ich ließ es geschehen, nur um weiterzukommen.
Die Hufschläge nahm der Infanterist links neben mir als erster wahr. Er blieb stehen und ich mit ihm und dann spürte auch ich es auf dem Boden, auf dem ich stand. Mit einem Zischen wurden die Halme umgelegt eine Lanzenspitze kam auf uns zu, wir sprangen zur Seite, der Hinterschenkel des Pferdes streifte mich leicht an der Schulter. Der französische Ulane zog vorbei, bremste den Galopp ab und wendete. Sein Ritt hatte eine Schneise durch das Getreide hinterlassen und auf diesem Weg erschien ein zweiter Franzose mit vorgestreckter Lanze. Ich hatte längst meinen Säbel gezogen, duckte mich und sah die Spitze der Waffe auf mich zukommen. Der Reiter war in seiner geradlinigen Bewegung gefangen. Ich jedoch sprang zur Seite und stach mit dem Säbel nach oben. Ich spürte einen Widerstand, aber im nächsten Moment war der Ulane schon einige Yards davongeritten. Sein Kamerad suchte bereits erneut ein Ziel, das ich ihm bot.
Der Kampfplatz um mich herum war jetzt gänzlich niedergetrampelt. Der Hufschlag dröhnte über den Boden. Reiter und Pferd kamen schnell auf mich zu. Dann tat ich etwas, das mich immer mit Bedauern erfüllt. Ich ging erneut zur Seite und in die Hocke, holte gleichzeitig mit dem Säbel aus und sichelte zwei Fuß breit über den Boden, während sich die Vorderläufe des Pferdes schnell näherten. Ein glatter Schnitt, das Tier stürzte, machte dabei keinen Laut, was der Überraschung geschuldet war. Der Ulane flog durch die Luft, landete in den noch intakten Getreideständen und wurde von meinen neuen Kameraden sofort mit Bajonetten attackiert. Hinter mir fielen Schüsse. Der zweite Ulane, trotz eines Säbelstichs, den ich ihm zugefügt hatte, bereits wieder im Anritt, wurde niedergestreckt, stürzte von dem fliehenden Pferd.
Die Preußen bildeten nun sofort ein Karree, reckten ihre Musketen in die Höhe, so dass die Bajonettspitzen deutlich über die Getreidehalme ragten. Dies zur Abschreckung weiterer Angreifer. Das Karree wurde eine kurze Zeit gehalten, bis der Leutnant zum Aufbruch rief, denn noch befand sich die Truppe auf der Flucht. Ich schloss mich an, nachdem ich meine Pistole geladen und dem französischen Pferd den Gnadenschuss gegeben hatte. Vorsichtshalber lud ich die Pistole erneut, steckte meinen Säbel zurück in die Scheide und eilte den Preußen hinterher.
Nach diesem Angriff wurde noch mehr Tempo gemacht. Wir mussten fürchten, dass weitere Kavallerie uns entdecken könnte oder den Kampf beobachtet hatte und nun auf Rache aus war. Ich musste aufpassen nicht zurückzubleiben, denn für eine kurze Zeit schien jeder auf sich selbst gestellt zu sein. Doch die Führung des Leutnants brachte wieder Disziplin. Wir glitten geordnet, rasch, aber vorsichtig durch das hohe Getreide. Dann ein Schatten vor uns. Das Feld endete, ein Wald begann unmittelbar. Das Vorwärtskommen war zunächst einfacher, schließlich aber wurde es anstrengender, über das Unterholz zu steigen und seinen Weg zu finden.
Die Truppe ging erneut auseinander, aber wie schon zuvor, rief der Leutnant seine Männer zusammen. Mir fehlte jegliches Gefühl für die Strecke, die wir zurückgelegt hatten. Als der Wald endete lag ein Acker vor uns, nur eine kurze Distanz bis zu den ersten Häusern. Ich blickte auf, als ich mich nicht mehr auf jeden Schritt konzentrieren musste, und sah die Mühle von Brye. Das Hauptquartier Feldmarschall Blüchers war nicht mehr weit. Wir hatten gut drei Meilen zurückgelegt, ein Gefühl für die Zeit hatte ich allerdings nicht. Ich sah zum Himmel und deutete den Stand der Sonne. Es war ein fast heißer Nachmittag an diesem 16. Juni 1815. Und hier und zu dieser Zeit drang der größte Schlachtenlärm von allen Seiten auf mich ein.
Das Dorf Brye quoll über von preußischer Infanterie und Kavallerie. Die Kanonen waren allerdings weiter östlich abgeprotzt und spuckten und feuerten in Richtung der französischen Linie, der ich soeben entkommen war. Es ging alles ganz schnell. Ich verlor meine Retter aus den Augen, konnte mich weder bei den Männern noch bei dem Leutnant bedanken, dessen Namen ich niemals erfahren sollte und den ich niemals im Leben wiedersah. Es kann gut sein, dass er und seine Männer am Ende doch noch zu den vielen Gefallenen zählten, die die Schlacht von Ligny an diesem Tag forderte.
Ich blieb nicht lange alleine. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, aber ein Major sprach mich an, er erkannte meine schwedische Uniform und führte mich zu einem Gehöft etwas außerhalb Bryes, zu dem die bereits besagte Windmühle gehörte. Ich fand mich im Stab Feldmarschall Blüchers wieder. Der Alte, wie ihn seine Männer mit allem Respekt nannten, beobachtete die Schlacht von der Windmühle aus. Ich trat ans Fenster, blickte hinauf, konnte aber niemanden sehen, weil ich mich auf der rückwärtigen Seite befand. Es stand mir auch nicht zu, Blüchers Adjutanten August Ludwig von Nostitz, der mich im Dorf aufgelesen und zum Hauptquartier gebracht hatte, zu folgen, als dieser Order erhielt und sich verabschiedete. Ich bekam zu essen und zu trinken, mir wurde sogar eine Lagerstatt angeboten, aber ich war längst nicht müde, nicht zu einer Zeit, wo sich die Ereignisse der Schlacht überschlugen.
Ich schlürfte eine Suppe, nahm Brot, Käse und ein dickes Wurstende in die Hand und trat hinaus auf den Hof und wieder hinein in den Schlachtenlärm. Die Windmühle war keine fünfzig Yards entfernt, ich traute mich aber nicht hinzugehen. Ich wartete stattdessen, sah über dem Schlachtfeld Rauch und Feuer, hörte das Rattern der Musketen und gelegentlich das Pfeifen der Kanonenkugeln. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, aber plötzlich kam Bewegung in die Wachen, die vor dem Eingang zur Mühle standen. Offiziere strömten auf den Hof und da sah ich ihn, in der Mitte seines Stabes. Blücher wirkte energisch, ließ sich sein Pferd bringen und stieg auf. Sein Gefolge hatte Schwierigkeiten, Schritt zuhalten. Es wurde nach den Burschen geschriehen, weitere Pferde wurden herangebracht. Zunächst war der Aufbruch wie ein Tumult, dann herrschte plötzlich Ruhe, eine Ruhe in die sofort wieder der Schlachtenlärm drang.
Ich blickte zur Mühle, der Eingang war jetzt unbewacht. Ich hielt noch immer das Wurstende in der Hand, schmiss es zur Seite, ging hinüber trat durch die offene Tür und tauchte in einen staubigen Raum ein. Ich gewöhnte mich schnell an die Dunkelheit, fand die ausgetretenen Stiegen und machte mich auf den Weg hinauf. Es war recht anstrengend, da erst ganz oben eine schmale Plattform zu finden war, auf die ich ins Freie trat. Genau an dieser Stelle hatte Minuten zuvor noch Feldmarschall Blücher gestanden, der jetzt auf dem Weg war, selbst in das Kriegsgeschehen einzugreifen.
In späteren Jahren habe ich viel über den Verlauf der Schlacht gelesen, die an diesem Tag den Anfang vom Ende Napoléons einläutete. Es waren Berichte von Unbeteiligten, zumeist verklärt heroisch, aber auch Augenzeugenberichte, in denen ich mich ebenfalls nicht vollständig wiederfand, sofern ich an den genannten Orten selbst anwesend war und so ein Urteil hätte fällen können. Jeder sollte daraus lernen, dass das persönliche Empfinden eines Ereignisses oft nur wenig mit der sachlichen Realität zu tun hat. Aber was bedeutet diese sachliche Realität? Ist es ein Aufzählen der Gefallenen und der Verwundeten, der eroberten Kanonen und Furagen, des Gewinns an Terrain? Der Tod eines Soldaten mag noch etwas Endgültiges sein, weil dabei alles erstirbt, keine Erinnerung übrigbleibt. Ganz anders ist dies bei den Verwundeten und den Überlebenden. Hier kann jeder sein eigenes Empfinden herausschreien und je öfter er dies tut, je mehr entfernt sich sein Eindruck von der sachlichen Realität.
Bei meiner Schilderung soll dies berücksichtigt sein. Ganz sicher kann ich aber bestätigen, dass Napoléons Angriff auf Saint-Amand begann, als die Kanonen im etwa sechs Meilen entfernten Quatre-Bras zu sprechen begannen. Es waren also zwei Schlachten entbrannt, die Preußen von den Briten mit ihren niederländischen Verbündeten getrennt,