seine Zeit pünktlich am Stammtisch bei Röhrichs einzuhalten und dort sein Glas Bier vor Tisch zu trinken. Er hatte eben um die Zeit keine Zeit, und Fräulein Simprecht war in ihrer Engelsnatur die Unschuldige gewesen, die dafür büßen mußte.
Ein paar Tage sah sie auch der Doctor nicht und – war vielleicht selber daran schuld, denn er hielt sich ängstlich von allen jenen Orten fern, an welchen er ihr möglicher Weise hätte begegnen können. Am vierten Tage traf er sie zufällig auf der Straße, und zwar auf eine Weise, daß er nicht mehr im Stande war, ihr auszuweichen.
Hochachtungsvoll grüßte er auch, und zog den Hut viel tiefer vor ihr ab, als es sonst seine Gewohnheit war – aber es half ihm nichts.
/74/ „Scheusal!“ murmelte die Dame wohl halblaut nur, aber doch verständlich genug vor sich hin, warf den Kopf, ohne den Gruß zu erwidern, hoch und weit zurück, und rauschte dann stolz, wie ein mächtiges Kriegsschiff an einem kleinen erbärmlichen Kauffahrtei-Schuner, vorüber. – Doctor Julius Forbach war aus der Liste der Existirenden gestrichen.
Die Schwestern.
Erstveröffentlichung 1872: "Der Bazar, illustrierte Damen-Zeitung 18. Jahrgang. Berlin: L. Schaefer
Nr.32, Seiten 257 - 259, Nr.33 wurde ausgelassen, Nr.34, Seiten 274 - 275, Nr.35 wurde ausgelassen, Schluss Nr.36, Seiten 289 - 291"
1.
Auf dem Anstand.
Es war ein wunderbar schöner Augustmorgen; der ganze Wald duftete. Eben stieg über die Wipfel des nächsten Höhenzugs jener lichte Rosaschein empor, der das Nahen der Sonne kündet, und wie mit Perlen überstreut lag eine kleine schmale Waldwiese, die sich aber scharf in das Thal senkte, und durch welche ein klarer, murmelnder Forellenbach seine, durch den Porphyr-Untergrund wie bräunlich gefärbte Krystallfluth hinabrieselte. Begrenzt aber wurde die Wiese auf der einen Seite durch einen prachtvollen hochstämmigen Buchenwald, während auf der andern eine sogenannte, etwa zehnjährige Dickung von Nadelholz, in der nur einzelne alte und knorrige Eichen standen, die östliche Einfassung bildete.
Und wie das in den Büschen und Zweigen lebte und zwitscherte, wie das herüber und hinüber flog! Da droben auf dem einen Buchenwipfel girrte ein wilder Tauber, dem von gegenüber ein Nußhäher spottend antwortete; die Finken schlugen, die Drossel flötete dazwischen, und etwas weiter oben äste sich ein schlankes Reh mit seinem Kitz und warf jetzt nur manchmal wie scheu den schönen Kopf empor, als ob es eine Gefahr wittere oder fürchte.
Gefahr? – armes Geschöpf, deine scharfen Sinne würden dich nicht geschützt haben, als du ahnungslos mit der Mor/76/gendämmerung den Platz betratest, denn in dem Schutz der Dickung, kaum hundertfünfzig Schritt von dir entfernt, lauerte wohl versteckt ein Jäger und hätte dich mit seiner sichern Kugel schon längst erreichen können, wenn es nicht eben ein ächter Waidmann gewesen wäre, der nicht daran dachte, Mutterwild zu erlegen.
In einem sorgfältig ausgeschlagenen Gebüsch, das ihm freie Bewegung gestattete und ihn doch vollständig auch gegen das scharfe Auge eines Wildes deckte, stand ein junger Mann in einer grauen Joppe mit grünem Kragen, einen runden Jagdhut auf, der zwei Spielhahnfedern trug, während ein Paar fein gegerbte, aber derbe Jagdstiefel den untern Theil des Beines deckten.
Wohl hatte er hier schon fast seit einer halben Stunde den Bewegungen des Rehes und dem muntern Spielen des Rehkitzes zugeschaut und sich daran erfreut; aber sein Blick schweifte doch oft rasch und forschend darüber hin, denn er wartete hier auf anderes und edleres Wild.
Gerade über diese schmale Waldwiese wechselte jeden Morgen etwa um die nämliche Zeit ein sehr starker Hirsch, dem er schon lange nachgespürt, ja ihn auch einige Mal selbst gesehen hatte, ohne je im Stande zu sein, ihn zum Schuß zu bekommen. Heute wollte er es deshalb mit dem frühen Anstand versuchen, und einen günstigeren Morgen konnte er sich dazu nicht denken. Eben von dort her, wo der Hirsch jedesmal aus der Ecke des Buchenwaldes trat und dann schräg hindurch nach der Dickung herüber schritt, drang der schwache Luftzug, die Witterung konnte er deshalb nicht von ihm bekommen, und von hier aus bestrich er dabei, seines Schusses sicher, den ganzen offenen Grund. Dazu der herrliche Morgen, die stets mehr gespannte Erwartung, der duftende Wald, ja das Reh selbst, das so vertraut dort auf und ab suchte. – Da hob dieses wieder scheu den schönen Kopf mit den klugen Augen, stieß dann einen leisen, fast zirpenden Ton aus und wandte sich wie durch irgend etwas verscheucht und von dem Kitz dicht gefolgt der Dickung zu, in der es gleich darauf verschwand.
War das der Hirsch, den das Reh vielleicht nahen gehört? Der junge Schütze fühlte, wie ihm das Herz fast hörbar in /77/ der Brust schlug, und wenn er auch wahrlich kein Neuling auf der Jagd war, so war der Moment doch ganz danach angethan, ihn aufzuregen und in fieberhafte Spannung zu versetzen.
Da rasselte oben etwas in den Büschen: im Nu hatte er die Büchse herauf, den Hahn gespannt, den Finger am Stecher – trockene Zweige knackten, das Laub raschelte, und:
„Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein.
Hangen und Bangen in schwebender Pein,
Himmelaufjauchzend, zum Tode betrübt,
Glücklich allein ist die Seele, die liebt“4
schmetterte eine helle Stimme wie jubelnd durch den morgenstillen Wald.
Drüben im Buchenwald wurde es laut – dort zwischen den einzelnen Stämmen durch, aber so weit entfernt, daß er die lichte Gestalt dann und wann auf Momente erfassen konnte, ging in voller Flucht der starke Hirsch – sein Hirsch, wie er schon fest geglaubt – aufgescheucht durch das Unterholz. Ein Schuß dahin konnte keinen Erfolg haben, und plötzlich wie in den Boden hinein versunken war auch der Hirsch, der eine Schlucht angenommen hatte, um seine schützende Dickung weiter unten zu gewinnen, und damit spurlos verschwunden.
Der junge Schütze gehörte, wie auch schon das feine Tuch seiner sonst einfachen Jagdkleidung bezeigte, jedenfalls der höhern und gebildeten Gesellschaft an, aber –
„Jauchzend begrüß’ ich das Blumengefild,
Jubelnd die Thäler in Nebel gehüllt.
Ueber die Sterne und weiter hinaus
Breiten die Arme der Liebe sich aus“
sang wieder, jetzt näher kommend und fast laut aufjauchzend die Stimme, und: „Ei so wollt’ ich denn doch, daß ein heiliges Kreuz-Donnerwetter den verdammten Berliner in den Erdboden hineinschlüge!“ knurrte der Schütze in den Bart, als er den Hahn seiner Doppelbüchse in Ruhe setzte und einen zornigen Blick oben nach der kleinen Wiese warf, wo eben ein sorgloses, glückliches Menschenkind in’s Freie trat, einen Moment die wunderschöne, herrliche Welt vor sich, da ihm /78/ dort gerade ein freier Blick über den Wald und das tiefer gelegene Land vergönnt war, überschaute und dann plötzlich ohne die geringste äußere Veranlassung, aus freier Hand einen Purzelbaum mitten auf der Wiese schlug.
„Wenn der Mensch nicht verrückt ist,“ murmelte der so arg gestörte Schütze vor sich hin, „so weiß ich’s nicht. Ob der nur herausgekommen ist, um hier mit Sonnenaufgang auf der nassen Wiese gymnastische Uebungen zu machen? Daß ihn der Henker hole, und solches Volk, das in ein Irrenhaus statt in den Wald gehört, lassen sie frei hier draußen herumlaufen!“
Der junge Fremde indessen, der vollkommen städtisch und sogar elegant gekleidet war, ja auch Lackstiefeln trug, die aber in dem starken Thau nicht recht zur Geltung kommen konnten, blieb noch einen Moment da oben wie in schweigender Bewunderung stehen und eilte dann, aus voller Brust wieder singend, in Lust und Jubel am Rande der Wiese abwärts, wo er die Stelle, auf welcher der Schütze stand, unmittelbar passiren mußte.
„Dürfte ich Sie fragen,“ fragte da dieser, als der Fremde, ohne ihn bis jetzt gesehen zu haben, dicht an ihn herangekommen war und jetzt, bei der lauten unerwarteten Stimme dicht an seiner Seite, ordentlich zusammenfuhr, „was Sie hier zu so früher Stunde im Walde zu suchen haben und weshalb Sie einen so heillosen Spectakel machen?“
„Alle Wetter, haben Sie mich erschreckt!“ rief der junge Mann, indem er zur Seite fuhr und unwillkürlich, nicht etwa nach einer verborgenen