Iva Okërn

Stell' dich nicht so an! Leben mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS


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fordernden Arbeitsalltag – das war kein Problem für mich.

      Jetzt kann ich das nicht mehr. Ich hole das Letzte aus mir heraus, um die geringe Steigung bis zur Bildungsstätte hinaufzufahren. Oben angekommen steige ich mit zitternden Knien und unverhältnismäßig verschwitzt vom Rad. Ich gehe die letzten Meter zu Fuß, um das Herzrasen zu mäßigen, den Schweiß trocknen zu lassen und das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Ich will nicht, dass mich Kolleg*innen und die Familien der Kinder derart derangiert sehen. Sie kennen nur eine gelassene und fröhliche Iva und so soll es bleiben.

      Mein erster Weg führt mich in den Waschraum. Ich ziehe das Shirt aus und wasche Gesicht, Nacken, Achseln und Arme. Ich habe immer mein eigenes Tuch dabei. Dann bediene ich mich aus meiner Kiste im Spind, in der ich Deo, Parfüm, Cremes und Erkältungssalbe aufbewahre. Ich muss mich noch einmal pflegen.

      Die Erkältungssalbe ist mein Ritual. Ich habe dauernd Husten, Schnupfen oder Halsweh. Beinahe jeder Tag fühlt sich für mich so an, als würde ich eine Erkältung ausbrüten. Manchmal wird der Husten schlimmer. Besonders schlimm zu Zeiten, in denen mir auch meine Allergien zu schaffen machen. Erkältungssalbe auf der Brust lindert für mich ein wenig den Husten. Und auch ein Tuch oder Schal um den Hals muss sein. Die können mir nicht bunt genug aussehen.

      Wegen meiner Selbstpflege bin ich etwas vor Arbeitsbeginn da. Und wenn ich schon mal da bin, fange ich gleich früher an. Wenn meine Kolleg*innen um sieben Uhr pünktlich zum Frühdienst erscheinen, sind schon viele Handgriffe getan. Sie nehmen die ersten Kinder in Empfang.

      Ich könnte das nicht.

      Ich bin abgekämpft von den vergangenen zweieinhalb Stunden: aufstehen, duschen, frühstücken, radfahren, Selbstpflegeaktion, Türen aufschließen, Stühle herunterstellen, Tische decken, Post hereinholen... das hat mich bereits völlig aufgebraucht. Ich könnte mich schon wieder hinlegen und zwei, drei Stunden schlafen. Aber das geht natürlich nicht. Die Kinder mit ihrer Laustärke und ihrem Aufmerksamkeitsbedürfnis kann ich in diesem Augenblick nicht um mich ertragen, und auch die Eltern mit ihren Anliegen nicht. Ich kann jetzt nicht sprechen. Ich kann keine Geduld aufbringen. Ich muss erst wieder die unerträgliche Erschöpfung in mir hinunterkämpfen, um Fassung ringen, mich zusammenreißen.

      Daher bereite ich das Frühstück der Kinder allein in der Küche vor, kümmere mich um unsere Terrarientiere, erledige dies und das Notwendige rundherum, ehe ich nach etwa einer halben Stunde erholt genug bin, zu den anderen zu stoßen.

      Ich habe das große Glück, dass ich als Sprachexpertin gruppenübergreifend in einer KiTa tätig bin. Ich kann meist selber bestimmen, ob ich in einer großen Gruppe, in Kleingruppen, in der Einzelbetreuung oder im Personalraum am PC arbeite. So kann ich die Arbeit oft gut meinem Befinden anpassen.

      An Tagen, an denen das nicht möglich ist, bin ich nach der Arbeit einfach nur kaputt. Häufig bin ich am nächsten Arbeitstag richtig krank: zerschlagen, mit Kopf- und Gliederschmerzen, manchmal erhöhter Temperatur, hundemüde.

      Wenn ich Glück habe, fallen diese Tage aufs Wochenende.

      Der Donnerstag ist mein heftiger, langer Tag in der Arbeit – Freitagnachmittag breche ich dann regelrecht zusammen, den Samstag verbringe ich auf dem Sofa oder im Bett liegend. Gottlob samstags, denn dann muss ich mich nicht krank melden. Es ist ein Horror, erschöpft zur Arbeit fahren zu müssen, aber sich dauernd krank zu melden, geht auch nicht und das verstehe ich auch nicht unter Arbeit.

      Es ist Mittag. Ich habe Pause. Unser Team hat sich glücklicherweise auf eine ganze Stunde Pause geeinigt. Ich haste in den Personalraum. Hurra! Ein Sofa ist noch frei! Ich werfe mich hin, ziehe mir eine Decke über die Schultern und bin schon eingeschlafen.

      „Es ist erstaunlich, wie du sofort einschlafen kannst“, meint eine Kollegin einmal: „Du liegst, und, wupps, bist du weg.“

      „Dass dich überhaupt nicht stört, wenn wir uns hier unterhalten oder die Kinder vor der Türe so laut sind“, wundert sich eine andere.

      Wenn ihr dermaßen erschöpft wäret wie ich, dann würde es euch nicht mehr wundern, denke ich.

      Wenn ich nach der Pause gleich in den Kinderdienst und auf Hochtouren laufen muss, dann ist das erneut Folter. Am liebsten sind mir die Tage, an denen ich erst noch etwas am PC oder in der Küche zu erledigen habe. Dann kann ich auch endlich eine Kleinigkeit essen. Seit dem Frühstück um fünf Uhr morgens habe ich nichts im Bauch; ich kann vor Müdigkeit oft nichts essen. Manchmal fehlt mir einfach die Kraft zu kauen und/oder zu schlucken. Wir haben zwar eine Frühstückspause gegen neun Uhr, aber häufig bringe ich nur meine notwendige Tasse Kaffee runter. Wenn ich gegen vierzehn Uhr die Mittagspause beende, schnappe ich mir einen Apfel oder Reste, die vom Mittagessen der Kinder übriggeblieben sind. Und Kaffee. Damit die Schläfrigkeit und Benommenheit weggeht.

      Dann stehe ich einigermaßen den Rest der Arbeitszeit durch.

      Aber nicht, wenn ich Chor habe.

      Den Chor habe ich vor Jahren mit großer Freude mit ins Leben gerufen. Es ist herrlich, gemeinsam mit den Kindern Vokalspiele zu veranstalten, Lieder zu singen und zu tanzen! Es war herrlich. Jetzt ist das, was ich sehr liebte, zur Qual geworden. Der Chor findet um halb drei nachmittags statt – das ist gar nicht meine Zeit. Ich muss schon vor dem Singen eine Lutschtablette nehmen. Ich weiß, was mir blüht. Ich werde heiser. Ich kriege immer weniger Luft. Ich bekomme Schnappatmung à la Horst Schlemmer. Meine Stimme bleibt oft ganz weg. Die halbe Stunde Chor ist für mich wie drei Stunden Leistungssport. Zwischendurch muss ich noch einmal eine Tablette lutschen. Hinterher bin ich nur noch mit großer Anstrengung und mit erheblichem Kraftaufwand in der Lage zu sprechen. Manchmal muss ich nicht mehr viel reden. Meistens aber doch: Eltern informieren, Absprachen mit Kolleg*innen treffen, Gespräche mit Kindern führen.

      Ich setze mich nach der Arbeit halb betäubt aufs Rad, um nach Hause zu strampeln. Mein Kopf ist wie benebelt. Brain fog nennen es die ME/CFS. Ich merke, dass ich total gereizt bin. Ich könnte vor Müdigkeit heulen. Jede Bank, an der ich unterwegs vorbeikomme, ruft mir zu: „Mach ein Päuschen, setze dich zwei, drei Stunden hier hin und fahr' dann weiter!“ Aber ich will nur noch nach Hause, um auszuruhen, zu schlafen – mein Sofa, mein Bett, meine Ruhe!

      Zuhause angekommen schlinge ich mein Essen hinunter. Meistens die Reste vom Vortag, damit sie nicht weggeworfen werden müssen. Dann kann ich nicht anders – ich muss mich hinlegen. Mein Körper hat keine Kraft mehr. Er zwingt mich dazu. Dabei ist es ihm ganz gleich, um welche Uhrzeit ich heimkomme oder wieviel Stunden ich gearbeitet habe. Ich muss ausruhen, sonst geht nichts mehr.

      Wenn mein Mann nach mir von der Arbeit kommt, findet er mich schlafend auf dem Sofa. Immer dasselbe 'schöne' Bild, das sich ihm bietet. „Ich bin müde“, rechtfertige ich mich sofort. „Ich kenne dich nur müde“, hält er mir entgegen: „Bewegung! Rausgehen! - Du lebst ja gar nicht!“ Ja, ich bin sicher nicht, was jemand zum Partner haben möchte: eine Schlaftablette, eine Schnarchnase!

      Ich versuche, mich zu verteidigen: „Heute war es sehr anstrengend...“

      Insgeheim mache ich mir genau dieselben Vorwürfe: er hat auch den ganzen Tag gearbeitet und ist müde, aber kommt nun noch seinen Pflichten in Familie, Haus und Garten nach; ich sollte mich zusammenreißen wie er, mich nicht hängen lassen, nicht meiner Müdigkeit nachgeben, mich nicht so anstellen – was für ein Beispiel der Bequemlichkeit gebe ich für unsere drei Kinder ab: negativ!

      Ich schäme mich und werde beschämt.

      Ich raffe alle meine Kräfte zusammen. Ich schaffe es noch, mit unserer Jüngsten die Englisch-Hausaufgaben zu besprechen, eine Maschine Wäsche zu waschen und aufzuhängen, für den nächsten Tag vorzukochen, auf dem Gartenweg Unkraut zu zupfen, dem Ältesten bei einer wichtigen Mail zu helfen, aufzuräumen, mich auf den nächsten Tag vorzubereiten … all die üblichen Handgriffe eines Familienalltags.

      Mich aber kostet dies das allerletzte Quentchen Kraft.

      Gegen zweiundzwanzig Uhr schleppe ich mich ins Schlafzimmer. Ich versuche, noch etwas zu lesen. Lesen ist mir wichtig,