zu den Männern gewandt: „Bitte nehmen Sie Platz.“
Otto traut seinen Ohren kaum. Liese hat zu ihm bitte gesagt. Er kann sich nicht daran erinnern, dass Liese jemals bitte zu ihm gesagt hätte. Liese verfügt eben über feine Manieren, wenn sie nur will. Kein Wunder bei dieser Ausbildung!
„Ich decke nur rasch ein“, sagt Liese mit liebenswertem Lächeln und huscht in die Küche. Die Tür lässt sie offen. Sie will beobachtet werden und gleichzeitig beobachten. Eine geschlossene Tür könnte als Abgrenzung, Ausgrenzung gedeutet werden. Mit schnellen Fingern bereitet Liese einen geschmackvollen Wurstteller zu. Das Auge isst mit. Das ist eine Erkenntnis, die sie im Haushalt des Pfarrers und des Postdirektors gewinnen konnte. Und diese Erkenntnis setzt sie dort um, wo es ihr geraten scheint. Liese passt sich immer der Situation an, macht das Beste aus jeder Situation. Sie hat etwas gegen das Heldentum. Es bringt nichts ein. Zumindest nichts für die kleinen Leute. Die kleinen Leute haben nur unter Helden zu leiden. Diese Erfahrung machte sie immer wieder in ihrem Leben. Liese spielt die Wirtin, tafelt auf.
„Dem Gast das Beste“, sagt sie und besteht darauf, dass der Dolmetscher ihre Worte übersetzt. Mit sichtlichem Behagen langen die vier Männer zu, genießen das duftende Brot, von Liese gebacken.
Der Dolmetscher sagt: „Wir wünschen das Zimmer zu sehen, in dem die Offiziere schlafen.“
Liese führt sie in die Stube nebenan. Die Männer blicken sich im Raum um. Für Liese völlig unerwartet, beginnt der Offizier mit den dunklen, schwermütigen Augen und den kurz geschnittenen schwarzen Haaren laut zu schimpfen, zeigt dabei auf die Metalltafel mit der eingravierten Büste eines Soldaten. Die Veränderung des Mannes von einem Moment zum anderen kann sich Liese nicht erklären. Minuten zuvor hat er friedlich und zufrieden am Tisch gesessen. Jetzt ist er wütend, redet mit Händen und Füßen. Obwohl Liese kein Wort versteht, erahnt sie den Inhalt seiner Worte. Eindeutig sind seine Gesten. Ihr wird heiß und kalt wie bei einem Wechselbad. Sie sieht schon das Unglück über sie und Otto hereinbrechen.
Der Dolmetscher sagt: „Ihr seid Faschisten! Ihr müsst bestraft werden!“ Dabei zeigt er auf die Gedenktafel, die sie zur Erinnerung an ihren Fritz aufgestellt haben. Die Gedenktafel mit den markanten Gesichtszügen eines Edelariers wurde zugeschickt als Auszeichnung und Trost, weil ihr Fritz den Heldentod für Führer und Vaterland gestorben war. Wie ihr Fritz gestorben war und wo, wurde nicht erwähnt, nur dass er ehrenvoll und tapfer gekämpft habe. Seine Briefe stimmten traurig wie die Sehnsucht, die sich nicht erfüllte. Seinen letzten Brief schrieb er vor Stalingrad. Er war ein Schrei der Verzweiflung: Wir verlaufen uns in endloser Weite und werden nicht wieder nach Hause finden. Der Tod ließ ihn nicht wieder nach Hause finden. Hitler wollte auch den letzten Winkel der Welt germanisieren.
„Wir sind keine Faschisten“, sagt Liese. „Uns wurde die Tafel geschickt, weil unser Sohn gefallen ist, weil mein Fritz im Krieg geblieben ist, weil wir selbst Opfer des Krieges sind. Verstehen Sie? Übersetzen Sie das bitte!“
Andächtig lauscht Liese den Worten des Dolmetschers, die sie nicht versteht. Sie spürt, wie der Schweiß ihr den Rücken herabläuft. Sie fühlt sich elend, einsam und verlassen, will laut schreien, um sich von dem Druck zu befreien, der auf ihrer Seele lastet. Tränen steigen ihr in die Augen. Sie bemerkt, wie der Offizier mit den dunklen, schwermütigen Augen und den kurz geschnittenen schwarzen Haaren auf die Gedenktafel zugeht. Seine Hände umschließen sie. Er zögert. Dann geht er auf Liese zu, drückt ihr die Erinnerungstafel in die Hand.
Der Dolmetscher sagt: „Der Hauptmann möchte die Erinnerungstafel an Ihren Sohn nicht im Zimmer haben. Seine Familie wurde von den Faschisten umgebracht. Unser Hauptmann ist Jude,“ fügt der Dolmetscher nach einer kleinen Pause hinzu.
2
Auf seinem Braunen sitzt Heinz, hält die Zügel straff in der Hand. Er hätte sich bei den Lastkraftwagen wohler gefühlt, aber da er vom Dorf kommt, wird er zur Kavallerie abkommandiert. Sein Schwager, aus einem Bauernhof stammend, in dem auch Pferde gehalten werden, verschlägt es in den Fuhrpark. Er repariert sicherlich irgendeinen Lastwagen, während Heinz auf dem Rücken seines Konikpferdes durch die weite russische Steppe reitet. Alle sagen zu diesem unermesslich weiten, unüberschaubaren Land Russland, obwohl es offiziell Sowjetunion heißt.
Der junge Mann ist nicht glücklich. Er friert. Er bildet sich ein, hier im Herbst ist es kälter als in Deutschland, kälter als in der Lausitz, kälter als in der Dolna Łužyca. Keine Menschenseele weit und breit! Weit verstreut liegen die Dörfer. Arm sind die Menschen, besitzen kaum Vieh. Sein Pferd hört auf den Namen Konik. So nennen die polnischen Bauern diese Pferde, die sehr widerstandsfähig, geradezu robust sind, sich in der Landwirtschaft als sehr arbeitsame, sehr belastbare, sehr genügsame, als äußerst friedfertige Arbeitstiere bewährt haben. Sie sollen ausgesprochen widerstandsfähig gegenüber Kälte sein, ertragen gelassen extreme Temperaturschwankungen. Sein Brauner gehört nicht zu den Braunen, wie sie zu finden sind in den Dörfern seiner Heimat. Dieses Pferd ist gedrungener gebaut, wirkt kräftiger, untersetzter, hat ein struppiges Fell, ist vertraut mit den Sümpfen, den endlosen Wäldern, den Feldern, der grenzenlosen Steppe. Ruhigen Schrittes durchquert sein Konik die unermessliche Weite. Viel hat er über diese Pferde-Rasse gehört. Sie soll von den asiatischen, von den mongolischen Wildpferden abstammen, die in Europa als das Przewalski-Pferd bekannt sind. Nikolai Michailowitsch Przewalski, so hat sich Heinz kundig gemacht, diente als Offizier in der Kaiserlich-Russischen Armee, machte sich später als Forschungsreisender einen Namen, beschrieb die nach ihm benannten Wildpferde. Heute hat die Wissenschaft herausgefunden, dass das Przewalski-Pferd wie die Tarpan-Pferde sind, die aus der Gegend um Botai in Nordkasachstan abstammen, das die Menschen vor vielen Jahrtausenden in den süd-russischen Steppen domestiziert haben. Die Botais, die Przewalski-Pferde und die Tarpane sind sicher wie die wild lebenden Mustangs Nachkommen verwilderter Hauspferde oder Mischlinge zwischen Wildpferd und Hauspferd. Noch vor 12000 Jahren während der letzten Eiszeit soll es in Nord-Amerika Wildpferde gegeben haben, sicher auch in Europa. Nur schwer kann sich das Heinz vorstellen, aber die Wissenschaftler müssen es ja wissen. Es sind ja kluge, studierte Leute. Sogar seine Mutter ist davon überzeugt. Immer erwähnt sie, was für kluge, angesehene, gebildete Leute der Herr Pfarrer und der Herr Postdirektor waren. Zu diesen Kreisen wirst du nie gehören, mein Heinz. Immer wieder hat er diese Litanei zu hören bekommen.
Endlos und eintönig ist die Steppe. Ein Land ohne Grenzen. Hinter dem Horizont taucht wieder Steppe auf. Nicht freiwillig verläuft er sich in dieser Ewigkeit. Dann nach vielen Nächten erblickt er am Horizont Wälder. Er reitet und reitet. Mitunter durchschneiden Wege die sumpfigen Wälder. Ungewohnt, unheimlich sind ihm diese Wege. Er weiß nicht, wohin sie führen, er weiß nicht, wo sie enden, ob sie überhaupt irgendwo, irgendwann, irgendwie enden. Die Wege ähneln nicht denen, die er kennt. Er kennt Wege aus Sand, die festgetreten, festgefahren sind, einen sicheren Schritt und Tritt ermöglichen. Das hier sind andere Wege, nicht vergleichbar mit den Pfaden und Fuhrwegen durch die Dolna Łužyca. Knüppeldämme durchkreuzen die morastigen Wälder. Sein stolzer Fuchs war auf einem solchen Weg gescheitert, brach sich ein Bein, als er auf einem morschen Balken abrutschte. Sein Fuchs war ein großes, schlankes, ausdauerndes Pferd gewesen, das auf seinen Hafer bestand. Die Natur hatte seinen Fuchs als jungen, temperamentvollen Hengst auserwählt. Sein Stammbaum war in vielen Gestüten registriert. Als seine Leistungen das Mittelmaß nicht überschreiten, wird er zum Wallach degradiert. Für die Teilnahme an Pferderennen reicht die von ihm erzielte Geschwindigkeit nicht aus. Als der Krieg ausbricht, wird er gemustert, für tauglich befunden und an die Front geschickt, gemeinsam mit Heinz. Das gebrochene Bein beschert ihm den Gnadenschuss. Heinz lässt seinen rechten Arm in der Steppe zurück. „Hans im Glück!“, sagten seine Kameraden zum Abschied. Für einen Einarmigen hat die Kriegsmaschine keine Verwendung.
Keine Ahnung hat Heinz, dass die Lausitz eingeteilt ist in die Niederlausitz, in die Oberlausitz und in das Lausitzer Gebirge. Keiner weiß so recht, wie viele Menschen, wie viele Stämme, wie viele unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in dieser kargen Landschaft mit den undurchdringlichen Wäldern im Verlaufe der vielen Jahrtausende versucht haben sich eine Existenz aufzubauen. Die Wissenschaftler haben herausgefunden, so glauben sie, dass während der viele Jahrhunderte andauernden Völkerwanderung zahlreiche slawische