T. R. Schiemann

Am Ende fügt sich alles


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mich Adriana auf eine Gestalt aufmerksam, die an einer Häuserwand lehnt.

      „Diego ist unterwegs“, sagt sie.

      Die Gestalt trägt trotz der Hitze einen schwarzen Rollkragenpulli, Jeans und grüne Gummistiefel. Sie versucht anscheinend, sich von der Wand abzustoßen, um auf die andere Straßenseite zu kommen. Das misslingt. Immer wieder taumelt sie einen Schritt vorwärts, um gleich darauf wieder zurück zu stolpern, so als würde sie ein unsichtbares elastisches Band nach hinten ziehen.

      „Soll ich ihm helfen?“, frage ich. Es ist mir unangenehm, den Mann bei seinen vergeblichen Bemühungen zu betrachten.

      „Nein, lass mal, das schafft er schon“, sagt Adriana.

      Jeder im Dorf kennt Diego. Jeder weiß, warum er hier ist, und jeder wundert sich, dass er noch lebt. Um seine Vorgeschichte ranken sich unzuverlässige Gerüchte. Man munkelt, dass er früher Verwaltungsangestellter im Baskenland gewesen sei. Einige wollen sogar erfahren haben, dass die ETA ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hat, weil er die Revolutionskasse plünderte. Dann sind da noch diejenigen, die behaupten, er sei der Erbe eines riesigen Vermögens und leide zusätzlich an gebrochenem Herzen.

      Diego ist, das glauben alle, schwer krank. Angeblich wurde bei ihm vor fast fünf Jahren ein Leberkarzinom diagnostiziert. Nach anfänglichen Therapien, darunter eine Chemo und eine vergebliche Operation, wurde er als unheilbar entlassen. Die Ärzte rieten ihm, seine Angelegenheiten möglichst schnell zu regeln und ansonsten die kurze Zeit, die ihm noch blieb, intensiv zu nutzen. Vor langen fünf Jahren entschloss sich Diego also, mit seinem bisherigen Leben zu brechen, seine Freundin zu verlassen und seinen Besitz in Bares zu verwandeln.

      Er zog hierher und wartet seither auf den Tod.

      Das erzählt man sich so. In unterschiedlichen Varianten.

      „Stell dir vor, jeden Tag dieses Elend“, sagt Adriana, „jeden Tag seit Jahren trinkt er, bis er umfällt.“

      Ich frage mich, ob er vorher schon getrunken hat.

      Wahrscheinlich nicht so viel. Aber weil er damals sicher war, dass ihm nur noch Wochen blieben und seine Leber sowieso schon hinüber war, wollte er sich unbedingt schnell zu Tode saufen.

      „Was meinst du, hat er Schmerzen?“

      „Er sagt nein.“

      „Wie alt ist er überhaupt?“

      „Schätzungsweise Mitte vierzig.“

      „Aber der Tod kommt nicht“, sage ich.

      „Nein, er denkt nicht dran. Diego lebt praktisch mittellos in einer Zwischenwelt.“

      Währenddessen hat sich Diego mit Schwung nach vorne katapultiert und gelangt langsam und bedenklich schwankend auf die gegenüber liegende Straßenseite. Dann verschwindet er aus unserem Blickfeld.

      „Er schafft es immer wieder“, sagt Adriana.

      „Er hat einen starken Willen“, sage ich.

      „Vielleicht liegt darin seine Tragik.“

      Paco setzt sich zu uns an den Tisch. Nur kurz, denn das Restaurant hat sich doch noch gefüllt.

      „Isabelita hat übrigens die Aufnahmeprüfung für die Polizei bestanden“, sagt er.

      Er schaut uns betrübt an.

      „Könnt ihr euch das vorstellen? Meine Isabelita! Die konnte früher noch nicht einmal einen Ball fangen, und jetzt nimmt sie die Polizei! Was ist bloß aus diesem Kackland geworden. Kleine Mädchen als Polizistinnen und sogar bewaffnet. Soldaten mit einem IQ von achtzig. Da kriegt man doch Angst. Hauptsache, die Arbeitslosenzahlen werden geschönt. Meine Tochter mit Pistole. Vielleicht muss sie sogar für ein paar Monate in den Norden zu den verdammten Basken. Da vermummt sich die Polizei, und die Terroristen zeigen in aller Ruhe ihr Gesicht. Mir wird schlecht, scheiß auf die Sozialisten.“

      „Immerhin bin ich jetzt praktisch unkündbar“, sagt Adriana.

      „Gieß noch mehr Öl ins Feuer“, sagt Paco.

      „Wir haben eine schwangere Verteidigungsministerin“, sage ich.

      „Ach, leckt mich doch“, sagt Paco und steht auf.

      Wir sitzen später auf dem Balkon unserer Wohnung. Der Wind hat nachgelassen, aber das hängt mit der Ebbe zusammen. Jetzt weht eine heiße Brise, die wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden wieder an Stärke gewinnen wird. Vom Strand klingt ziemlich laut Musik zu uns herauf. Wir trinken noch einen Absacker.

      „Was ist los?“, fragt Adriana.

      „Was soll los sein?“

      Sie würdigt mich keiner Antwort.

      Ich bin eine Weile still. Denke an Diego, den todgeweihten Trinker. An Claudia.

      „Ich weiß nicht“, sage ich dann laut.

      „Hhm?“ Adriana nippt an ihrem Whiskey.

      „Für Diego kommt der Tod nicht unerwartet“, sage ich.

      „Ja, und?“

      „Er ist ihm sozusagen vorgestellt worden. Hier ist dein ganz persönlicher Tod, sagte der Arzt. Ich lasse euch beide jetzt einmal alleine, damit ihr euch richtig kennenlernt, damit ihr euch näher kommt.“

      „Du meinst, dann ist es leichter?“

      „Man kann sich vielleicht besser darauf vorbereiten.“

      „Aber der Tod ist doch dann schon da, er übernimmt das Leben, setzt sich hinein, durchdringt alles. Das ist doch schrecklich, da ziehe ich doch die Ungewissheit vor“, sagt Adriana.

      „Ich weiß nicht“, sage ich erneut.

      „Du weißt heute eine ganze Menge nicht.“

      Ich bin plötzlich gereizt. Mich stört Adrianas lehrmeisterliche Art. Mich stört, wie sie sich entspannt zurücklehnt und die Eiswürfel in ihrem Glas klirren lässt. So sicher in ihrer Welt.

      „Was erwartest du eigentlich von mir?“

      „Ich?“, fragt sie.

      „Den ganzen Abend geht das schon so. Du sitzt da, und ich habe das Gefühl, ich müsste jetzt meine Gedanken offenlegen, damit du sie benoten kannst wie die Arbeiten deiner verdammten Schüler.“

      „Hör mal, du bist es, der hier herumdruckst. Seitdem du schreibst, bin ich deinen unterschiedlichen Stimmungen ausgesetzt. Der Künstler verzweifelt an der Welt. Ich hoffe, du bist noch nicht an der Schwindsucht erkrankt.“

      „Das ist wirklich verletzend“, sage ich.

      „Wir können uns ja im Morgengrauen duellieren. Die Wahl der Waffen überlasse ich dir. Dann hast du auch den Tod vor Augen, allerdings hast du dann vielleicht auch Pech und erwischst mich.“

      „Adriana, bitte …"

      „Selbstmord ist da schon sicherer. Es empfiehlt sich, einen Schierlingsbecher bis zur Neige zu leeren.“

      „Du schaffst mich, ehrlich“, sage ich, und ich meine es wirklich.

      Und trotzdem ärgere ich mich, denn worüber ich eigentlich reden will, ist Claudia. Ihren Tod. Bevor ich darüber schreibe. Darüber möchte ich mit Adriana reden, und ich bin wütend auf sie, dass es nicht geht.

      „Es gibt da einen Film“, sage ich stattdessen, aber sie unterbricht mich.

      „Kannst du nicht einmal ohne …"

      „Jetzt lass mich einfach reden, geht das vielleicht?“

      Adriana hebt beide Hände in einer auffordernden Geste, die heißen soll: Wenn es denn sein muss. Ich verkneife mir eine bissige Antwort und sage:

      „Es gibt da einen Film. Black Robe. Er spielt im frühen 17. Jahrhundert in Kanada. Es geht um einen Jesuitenpater, der Indianer zum Christentum bekehren soll. Dazu muss er im Winter flussaufwärts