T. R. Schiemann

Am Ende fügt sich alles


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wir hauen ab“, sagte Rodrigo. Der Druck seiner Hand auf meiner Schulter verstärkte sich.

      Capitán lehnte jetzt nicht mehr am Flugzeug, er trat ein paar Schritte zur Seite und blickte sich mit erhöhter Wachsamkeit um.

      „Klar, aber ich traue dem Idioten nicht, wieso sind die bewaffnet?“, sagte ich.

      Der Kerl hob lediglich die Augenbrauen und schwieg. Ich glaubte in seinem Blick auch noch Verachtung zu erkennen.

      „Lass die Leute ihre Arbeit machen“, sagte Rodrigo warnend, aber ich war bereits an einem Punkt jenseits der Vernunft angelangt.

      Einen endlosen Augenblick lang standen wir alle unschlüssig herum. Alle schauten auf mich.

      Plötzlich stieg in einem Teil von mir ungeheure Wut hoch. Und ich sage es so, weil es wirklich so war: Während ich immer aggressiver wurde, konnte ich mich geradezu selbst dabei beobachten. Ich empfand meine Wut als einen absonderlichen Klumpen in meinem Inneren, als eine Art fremdes Geschöpf, das langsam von mir Besitz ergriff. Und ich ließ es zu. Obwohl ich wusste, dass ich diesem Sog nicht hilflos ausgeliefert war, ließ ich es zu. Stürzte mich hinein.

      „Ich verhandele nicht mit dummen Arschlöchern wie dir“, hörte ich mich sagen. Ich riss mich von Rodrigo los, der mich noch aufhalten wollte, und schritt auf den Kerl zu und dachte an nichts und fühlte mich wunderbar befreit.

      Der Kerl rührte sich nicht, und ich ließ mich von meiner Wut leiten, von einem Hass, der sich völlig irrational und geballt gegen diesen Mann richtete, den ich vor wenigen Minuten noch gar nicht gekannt hatte.

      Dann spürte ich den Schlag hinter meinem Ohr. Da war kein Schmerz, und mir war auf einmal völlig klar, dass ich nur darauf gewartet hatte, dass ich in den letzten Sekunden bloß einen vorherbestimmten Ablauf von Ereignissen nachgespielt hatte.

      Dann kam der zweite Schlag. Der Gewehrkolben traf meinen Brustkorb. Ich knickte weg.

      Kapitel 11: Südspanien, 2009

      Adriana ist wie immer sehr früh aufgestanden. Sie fährt ungefähr eine Stunde zur Arbeit, und ich bin mir mittlerweile nicht mehr so sicher, ob es richtig war, mir dieses Apartment zu kaufen. Aber es ist schön. Und vom Balkon aus sieht man das Meer. Und, ja, die Seeluft tut gut.

      Aber es sind auch zwei Stunden täglich im Auto. Zwei Stunden. Ich hätte auch näher an ihrer Arbeit etwas kaufen können. Adriana stört das alles nicht so sehr. Sie liebt ihren Lehrerjob, und sie ist glücklich hier, und die Fahrt nutzt sie zum Lernen. Sie hat sich letzte Woche die Hörbuchfassung von Thomas Manns „Tod in Venedig“ angetan, auf deutsch. Sie will sich, wie sie sagt, an die Melodie der Sprache gewöhnen. Sie gibt zu, wenig verstanden zu haben.

      Wenn ich es recht bedenke, bin ich es, den manchmal Zweifel an unserer Lebensführung überkommen. Deswegen wird es immer wichtiger, dass ich gegen ein schleichendes Gefühl der Überflüssigkeit anschreibe.

      Heute soll es jedoch sehr heiß werden. Der Levante hat in der Nacht zuerst zögerlich angefangen zu blasen und dann immer mehr an Kraft gewonnen. Jetzt ist der Morgenhimmel diesig vom Staub ferner, östlich gelegener Wüsten und meine Selbstdisziplin auf dem Nullpunkt.

      Es ist schon länger her, dass ich in der Gegend um Cabo Roche unterwegs war, und ich denke, heute ist ein guter Tag, um dorthin zu fahren und ein wenig nachzudenken. Vielleicht aber auch, um einige bewusst aufgeschobene Erinnerungen zuzulassen.

      Mein winziges japanisches Auto hat keine Klimaanlage, ich muss also das Fenster herunterlassen und mich dem Wind aussetzen, der mit voller Wucht hereinweht und dabei einen dumpfen Unterdruck erzeugt. Es dauert eine Weile, bis ich die riesigen Hotelanlagen und Golfplätze hinter mir gelassen habe und den einigermaßen unverbauten Küstenstreifen erreiche. Natürlich stehen auch dort vereinzelte Ferienhäuser von Leuten, die genug Einfluss oder Geld haben, um geltende Bestimmungen zu umgehen, aber im Großen und Ganzen überwiegt tatsächlich die Natur. Kleine Pinienwälder, die fast bis an den Strand reichen, einige Kakteen, viel rötliche Erde, krummgewachsene wilde Pistazien und allerlei sonstige hartgesottene Gräser. Ich parke das Auto vor einem kleinen heruntergekommenen Haus mit einem zerstörten Wintergarten, das vor nicht allzu langer Zeit ein Fischrestaurant beherbergte. Neben der vergitterten Tür hängt noch ein Schild: „Es gibt frittierten Fisch“.

      „Jetzt nicht mehr, Baby“, sage ich laut in den Wind. „Jetzt nicht mehr.“

      Ich finde schnell einen ausgetretenen Pfad, der eine Böschung hinunter führt und gehe bis ans Wasser. Hier weht es noch stärker. Eine neblige, dünne Decke aus Sandkörnern pfeift über den Strand. Es sticht an meinen nackten Knöcheln. Ich beuge mich in den Sturm und blinzele in das gleißende Licht, muss aber sogleich schützend die Hand vor die Augen heben. Ich drehe mich um, so geht es besser. Das Meer ist aufgepeitscht. Das Geräusch der sich brechenden großen Wellen dringt verschleiert zu mir, verklingt im unentwegten Wind. Es hilft nichts. Ich drehe mich wieder um, senke den Kopf und kämpfe mich voran. Ich möchte zum Leuchtturm und zum kleinen Yachthafen. Dort ist es geschützter, dort finde ich eine Bar und ein Bier. Und außerdem habe ich das wunderbare Gefühl, allen Widrigkeiten zum Trotz auf ein Ziel hinzusteuern.

      Ich muss dann doch länger laufen als geplant. Der kleine Laden mit den groben Holztischen und den Sonnenschirmen, den ich angesteuert habe, ist nämlich pleite. Im Hafen liegen nur ein paar Fischerboote, und die Mole ist Abstellplatz für rostende Anker und Ketten. Ich höre das blecherne Scheppern von Flaggenleinen an flaggenlosen Masten. Weit und breit kein Mensch.

      Ich gehe also weiter die Landstraße entlang hügelaufwärts, durchquere ein Feld mit wilden Olivenbäumen, die den Wind etwas abhalten und stoße schließlich wieder auf die Straße und auf ein Restaurant im Cortijo-Stil, in dem ich schon einmal mit Adriana Muscheln gegessen habe. Ein paar knorrige und sonnengegerbte Bauern stehen am Tresen und versuchen, den in voller Lautstärke laufenden Fernseher zu überschreien.

      Ich bestelle ein Bier. Das Mädchen hinter dem Zapfhahn lächelt mich freundlich an und stellt noch ein Schälchen mit eingelegten Oliven vor mich hin.

      Es wird ein Fußballspiel übertragen. Der Sportreporter kommentiert jeden Spielzug mit großer Begeisterung. Mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass immer mehr Spiele gezeigt werden. Selbst unbedeutende Begegnungen drittklassiger Vereine, für die sich früher keiner wirklich interessierte, werden übertragen. Adriana meint, die Häufigkeit gesendeter Sportveranstaltungen stehe in direktem Verhältnis zu der eskalierenden Wirtschaftskrise. Vermutlich hat sie Recht.

      Ich bestelle ein zweites Bier und verziehe mich auf die Veranda. Der Levante treibt Plastiktüten und Papierfetzen über den verlassenen Parkplatz. Die altersschwachen Mopeds der Bauern stehen direkt unten an der Treppe wie dürre Klepper, die gemeinsam Schutz suchen. Geflochtene Körbe voller Pinienzapfen hängen wie Satteltaschen an den Gepäckträgern.

      Stimmungsmäßig bin ich noch ganz in der Nacht, in der Nähe von Monterrey, über die ich gestern geschrieben habe. Ich kann meinen leichtsinnigen Wutausbruch heute nicht mehr so richtig nachvollziehen. Ich setzte mich und meine Begleiter einer großen Gefahr aus. Ein zutiefst eigennütziges Verhalten. Aber was hatte ich bezweckt?

      Ich versuche, mich zurückzuversetzen: Man warf mich unsanft auf die Ladefläche eines Pick-Ups. Ich hatte nicht wirklich das Bewusstsein verloren. Vielmehr schwebte ich in einem sehr schmerzhaften Rausch dahin. Ein Zustand fast wie das plötzliche Hochfahren aus einem Albtraum. Ich lag bäuchlings auf der warmen Metalloberfläche, konnte kleine Rostflecken erkennen, Erde, trockene Grashalme. Alles unmittelbar vor meinen Augen. Ich roch verbranntes Holz oder Kohle. Ich konnte mich nicht bewegen, nur unter Schwierigkeiten atmen und spürte quälende, scharfe Stiche auf der linken Seite. Ich versuchte, mein Gewicht zu verlagern. Es war mir nicht möglich.

      Aber trotz allem, und das ist vielleicht das vorherrschende Gefühl gewesen, die Empfindung, die über die Zeit in mir überlebt hat, ging es mir gut. Ich durchlebte eine Pause, einen Augenblick Frieden. Ich war ein explodierter Körper, der sich in einer Rückwärtsbewegung wieder zusammenfügte. Das dauerte nicht lange, aber lange genug. Ich erkannte klar und deutlich, dass das geht und dass