T. R. Schiemann

Am Ende fügt sich alles


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Kein Wunsch, keine Illusion, keine Hoffnung auf mehr. Etwas jenseits der unmittelbaren Gegenwart ist schlicht unvorstellbar, die Zukunft birgt kein Versprechen mehr, keine Verheißung. Jetzt ist das alles umfassende Glück.“

      „Die Hölle“, murmelt Estrella.

      „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall ist da dieser Typ, Rochefort, der sich in eine Friseuse verliebt und sie sich in ihn. Fortan sitzt er den ganzen Tag in ihrem Salon, versteht ihr? Er tut nichts, außer ihr zuzusehen, wie sie den Leuten die Haare wäscht, sie schneidet. Er hört die Gespräche, den Klatsch, das ganze Leben in diesem Mikrokosmos, in dem er sich immer wohler fühlt, den er immer mehr beherrscht. Sie sieht ihn da sitzen auf einem der Kundenstühle, jeden Tag, vielleicht ein paar Jahre und liebt ihn immer mehr. Sie sehen sich manchmal an, sie reden nicht viel. Irgendwann ist ihnen diese kleine Welt genug. Sie verlassen sie nicht mehr. Über dem Salon ist die kleine Wohnung, in der sie kochen und leben. Einmal feiern sie ein Fest für sich. Sie betrinken sich an den Duftwässerchen und Lotionen und lachen. Es ist die schönste Szene. Ihre Liebe ist vollkommen und wunschlos.“

      „Du meinst, die saufen das Parfüm wirklich?“, fragt Manuel.

      „Ja, wirklich. Sie wachen am nächsten Morgen mit einem fürchterlichen Kater auf. Es geht immer so weiter. Er sitzt im Salon, liest vielleicht mal die Zeitung, unterhält sich mit den Stammkunden, erfährt ihr Leben, braucht nicht mehr. Und auch sie ist glücklich, aber …"

      „Aber was?“, fragen meine Freunde.

      „Aber dann kommt bei ihr die Angst, und das wollte ich euch klarmachen. Sie erkennt plötzlich, das dauert nicht lange, die Ausweglosigkeit der Situation. Was passiert, wenn das hier endet, wenn das hier aufhört, wenn es sich auch nur ändert, und sie weiß, es wird enden, so wie alles irgendwann einmal endet. Oder wenn es sich ändert, dann nur zum Schlechten. Sie stellt sich den ungeheuren Verlust vor, den Schmerz. Der Gedanke, ihm könnte womöglich etwas zustoßen, ist ihr unerträglich, bedroht ihr schieres Dasein. Sie trifft eine klare und unwiderrufliche Entscheidung. In einer stürmischen Nacht, sie hat gerade die Kasse abgerechnet, während er vor ihr sitzt, sie anschaut. Sie sagt irgendwas, ich weiß nicht mehr, ob sie sagt: ‚verzeih mir‘ oder ‚ich liebe dich‘. Sie stürzt aus der Tür, läuft die Straße entlang durch den heftigen Regen und springt in die tosenden Fluten eines Staudamms.“

      „Sie bringt sich um?“, fragt Paco entsetzt, „warum?“

      „Sie ist feige“, sagt Estrella plötzlich ganz klar.

      „Ja, feige ist vielleicht richtig. Aber was mich interessiert, ist diese fürchterliche Angst vor der Glücklosigkeit. Sie zieht es vor zu sterben, um nicht in dem Bewusstsein leben zu müssen, einmal das größte Glück, die größte Liebe verloren zu haben. Versteht ihr, wenn man sehr glücklich ist, dann hat man doch auch gleichzeitig immer Angst, nicht mehr glücklich zu sein. Mir ging es auf jeden Fall einmal so. Das ist lange her.“

      „Da verhindert sich das Glück doch selbst“, sagt José Luís. „Das ist doch absurd.“

      „Das ist das jüdisch-christliche Joch der Schuld, das wir mit uns herumschleppen“, murmelt Estrella wieder.

      „Ich glaube, das liegt außerhalb der Schuld. Die Angst im Glück ist eher ein Unvermögen, vielleicht mein Unvermögen.“

      „Also, wenn ich das richtig verstehe, hast du keine Angst vor dem Glück, sondern der Zustand an sich erzeugt die Angst“, fragt José Luís nachdenklich.

      „Ja, so ist es. So kommt es mir allmählich vor.“

      „Und behindert es dich?“

      „Ich denke nur oft an diesen Film. Aber jetzt hab ich Hunger.“

      „Und was hat das Ganze mit Spanien zu tun?“, fragt Paco.

      „Eigentlich nichts, sage ich. Es hat eher mit Glücklichsein zu tun.“

      „Na dann“, sagt Manuel, „dann lass uns noch was trinken.“

      Dann kommt Adriana zur Tür herein. Die Sonne steht tief, und es wird langsam kühler. Ich bestelle ihr ein Bier, gebe ihr ein Küsschen und trinke. Ob ich nun will oder nicht, es ist tatsächlich so etwas wie Glück.

      Kapitel 8: Nordmexiko, 23. Juli 1994

      Mein Vater starb am Tag, nach dem die Bruchstücke des Kometen Shoemaker-Levy in den Jupiter gestürzt waren. Ich erinnere mich genau an die Bilder im Fernsehen. Das Aufprallen. Die ringförmigen Explosionen. Ich stellte mir vor, wie die Trümmer in diesem Gasriesen verschwanden, hineintauchten in die wabernde Masse, in die unendlich fließenden Wolkenbänder, in die Nebelgeschwüre. Ein kurzes Aufflackern, weit entfernt, nichts weiter. Gut sichtbar war der rötliche Wirbelsturm, der seit Hunderten von Jahren tobt und der wahrscheinlich für immer toben wird. Und wäre die Erde getroffen worden? Ich ging schlafen und träumte von kilometerhohen Flutwellen, die auf mich zu rasten wie flüssig gewordene Bergketten. Mir stockte der Atem, ich wachte auf. Da war mein Vater wohl bereits tot.

      Der Jupiter, so las ich am nächsten Morgen, ist so riesig, dass er fast eine Sonne geworden wäre. In das Loch, das der größte Brocken in die Atmosphäre riss, passte die Erde zweimal hinein. Auf dem Foto in der Zeitung sah man die Wunden in der südlichen Hemisphäre des Planeten. Dunkle Flecken, die bald darauf wieder verschwinden würden. Ich erfuhr, dass die Masse des Jupiters das Sonnensystem stabilisiert, dass wir ohne Jupiter schon längst von Asteroiden zerschossen worden wären, wir überhaupt nicht existierten.

      Das Telefon klingelte, und ich hörte die Stimme meiner Mutter. Sie drang zu mir vom anderen Ende der Welt. Zuerst verstand ich nicht, was sie sagte. Sie nuschelte und schluchzte. Ich klemmte mir den Hörer unters Kinn und faltete meine Zeitung zusammen. Sie war wohl wieder betrunken.

      „Papa ist tot“, sagte sie.

      Ich schwieg und dachte an Steine, die kugelschnell durchs All schießen, bis sie auf ein Hindernis treffen.

      „Papa ist tot.“

      Was sollte ich sagen? Ich hatte plötzlich Angst, nichts zu empfinden.

      Ich hatte Angst, meine Mutter würde merken, dass ich im Augenblick wirklich nichts empfand.

      Auch keine Leere.

      Ich fragte: „Wie denn?“

      Aber eigentlich war sein Tod alles andere als überraschend. Er war angekündigt worden. Immer wieder, wochenlang. Ein Zustandsbericht, der sich hinzog, der sich abnutzte, sich wiederholte und der schließlich zu einer störenden, ewigen Leier verkam.

      Nach Jahren der Stille, des vollständigen Bruchs mit ihr, fast jeden Tag die Klagen meiner Mutter. Es geht ihm schlecht und schlechter und wieder besser. Stundenweise.

      Ein Sterben über Wochen. Wobei ich kein Mitleid spürte. Keine Sympathie, sondern in erster Linie Verantwortung und das ständige Bedürfnis zu agieren. Aber wohin?

      Die Zeit, meine Zeit, wurde eingeteilt, zerrissen, zerbröselt. Ich wurde eingesperrt in ein Wartezimmer, in den Vorraum des Todes.

      Immer in Erwartung.

      Ich sah den Krebs vor mir. Wie er sich durch die Eingeweide meines Vaters fraß. Ich sah ihn in seinem Bett dahinsiechen, während mir meine Mutter pünktlich Bericht erstattete. Mir anschaulich darlegte, wie sie ihm die Windeln wechselten und er sich immer öfter nachts einschiss. Sie erzählte mir, dass er manchmal vor Schmerzen schrie. Jetzt haben wir einen Morphium-Dosierer, sagte sie. Sie sagte wir.

      Ich folgte dem Verlauf der Krankheit, die irgendwie einen anderen befallen hatte. Nicht meinen Vater, mit dem ich nie mehr sprach, der nie nach mir fragte und der irgendwann zum Sujet meiner Mutter geworden war.

      Jetzt hörte ich wieder ihre Stimme, ihr Weinen.

      „Papa ist tot.“

      Und ich dachte gar nichts. Legte auf.

      Dann fing ich an, die beste Flugverbindung nach Hamburg herauszusuchen.

      Später