T. R. Schiemann

Am Ende fügt sich alles


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neugierig.

      „Stört dich irgendetwas?“

      „Ja, doch!“

      Ich blickte sie fragend an. Sie fuhr sich mit der Hand über die Haare und presste die Lippen zusammen. Ich beschloss abzuwarten. Mir war seltsam zumute. Warum stand ich mit dem Mädchen hier am Wasser? An diesem Steg? Ich wusste, dass die Jolle immer Eindruck schindete. Wollte ich vor ihr angeben? Sie war wirklich hübsch. Sie hatte jetzt die Arme vor der Brust verschränkt, drehte sich weg und ging ein paar Schritte den Steg aufs Wasser hinaus. Der Wind klebte den kurzen Rock an ihren Hintern. Ich hatte es darauf angelegt, und es hatte mir richtig gut getan, mich als so eine Art Großgrundbesitzer zu gerieren. Hatte sie das schon vor mir gemerkt? Peinlich. Ich ging zu ihr.

      „Ich frage mich, warum mein Vater in diese erlauchte Gesellschaft geladen wurde. Das passt nicht.“

      Sie sprach ruhig und konzentriert.

      „Es sind über dreihundert Leute hier, sagte ich. Freunde, Verwandte, die Stiftung.“

      „Es passt nicht“, wiederholte sie. „Es ist nicht gut für ihn, nicht gut für mich.“

      „Warum?“ Aber ich konnte mir irgendwie vorstellen, warum.

      „Er ist ein Idiot“, sagte sie. „Er wird sich wichtig fühlen. Er hat mich hierher geschleift, um mir etwas zu beweisen. Er ist ein Idiot. Wie ein Kind, dem man Bonbons hinwirft. Es bückt sich danach. Es kriecht auf dem Boden herum. Es ist ihm egal, wie das aussieht, und dann hält er triumphierend die Bonbons hoch und stolziert damit herum. Verstehst du. Das Schlimme ist, dass nicht alle aus der Stiftung eingeladen wurden. Warum er, verdammt!“

      Ich musste mir eingestehen, ich wusste es nicht, und es sah meiner Familie auch nicht ähnlich, den Portier einzuladen.

      „Es wird einen Grund geben“, sagte ich laut. „Vielleicht arbeitet er schon lange bei uns. Vielleicht hat er sich besonders hervorgetan, oder besondere Verdienste?“

      „Als Portier? Das wüsste ich“, sagte sie. „Das wüssten alle, glaube mir.“

      Ich versprach ihr, der Sache auf den Grund zu gehen.

      „Würdest du das tun?“, fragte sie.

      „Ja.“

      Mir war gleichzeitig klar, dass ich bereit wäre, noch viel mehr für sie zu tun.

      Dann sagte sie: „Erzähl mir von deinem Opa.“

      Und das tat ich.

      Kapitel 7: Südspanien, 2009

      Wir stehen in La Botica an der Theke und beklagen uns.

      „Alles geht zum Teufel“, sagt José Luís. Er nimmt Haltung an. Sein Körper ist erstaunlich durchtrainiert. Er hebt sein Glas wie zum Abschied.

      „Ich sehe da keine Lösung“, sagt Manuel, „aus dieser Krise kommen wir nie wieder heraus.“

      Manuel ist der Dorfsanitäter, ein kleiner Mann, etwas dicklich mit einem Topfhaarschnitt aus den Sechzigern. Und er sagt jeden Tag das Gleiche. Er wiederholt diese Behauptung gebetsmühlenartig. Anscheinend spendet sie ihm Trost. Er trinkt sein Bier und murmelt: Nie wieder.

      Paco, dem die Pizzeria um die Ecke gehört, sagt: „Ich habe dich gewarnt, Manuel, wenn ich noch einmal das Wort Krise aus deinem Mund höre, gibt’s eine Ohrfeige.“ Er hebt drohend die Hand. Paco ist eine elegante Erscheinung. Er sieht ein wenig aus wie Tom Selleck.

      „Hey“, fährt José Luís dazwischen, „lass ihn lieber eine Runde zahlen.“

      „Der hat doch noch nicht mal Geld, um sein eigenes Bier zu zahlen, du hingegen …"

      José Luís ist Marineoffizier im Ruhestand und wohl der einzige der Jungs, der einigermaßen entspannt in die Zukunft schauen kann.

      „Ihr seid doch wirklich Arschlöcher. Was kann ich dafür, dass ich, im Gegensatz zu euch, einen anständigen Beruf hatte?“

      „Anständig?“, murmelt unsere Freundin Estrella, die sich jeden Tag nach der Schule betrinkt und die jetzt, es ist kurz vor sieben, schon wieder bedenklich vor der Theke schwankt. Wir wissen, sie wird noch eine Weile durchhalten, und dann wird ihr einer von uns helfen, nach Hause zu kommen. Im Dorf ist es kein Geheimnis, dass Estrella trinkt, dass sie auch manchmal mit irgendeinem Touristen in ihrem Bett aufwacht oder im Sommer am Strand. Aber sie ist eine gute Lehrerin. Sie fühlt sich in die Kinder ein, spricht mit deren Eltern, schlichtet öfter Streitigkeiten als der Pfarrer und erwirkt sogar, wenn nötig, einen Kreditaufschub. Erwiesenermaßen verdanken ihr mindestens drei Familien im Dorf die Tatsache, dass die Bank sie noch nicht aus ihren Häusern geschmissen hat. Wichtig ist nur, dass man Estrella vor zwei Uhr mittags erwischt. Danach widmet sie sich mit derselben Leidenschaft, die alle ihre Handlungen bestimmt, dem Alkohol. Soweit ich weiß, und ich kenne sie seit Jahren, möchte sie es nicht anders.

      „Anständig sind wir alle“, sagt Paco, „sogar der Ausländer hier.“

      „Vielen Dank, wir Ausländer sind auch nur Menschen“, sage ich.

      „Ihr habt uns den Euro gebracht und die Schulden“, sagt Manuel.

      „Auch ich, der Ausländer, habe Schulden. Ich habe nur beschlossen, sie nie zurückzuzahlen.“

      „Dann hast du dich aber nicht in Spanien verschuldet, sagt Paco, denn hier in diesem paradiesischen Land hätten sie dir schon längst dein Apartment weggenommen. Hier verjähren die Schulden nie, sie bleiben bis über den Tod hinaus bestehen. Du bist bestimmt woanders auf die Schnauze gefallen, hast dein Geld bei uns versteckt und genießt unsere Sonne.“

      „Erwischt“, sage ich, froh darüber, dass sie meine wahre finanzielle Situation nicht kennen. In Wirklichkeit habe ich keinerlei Geldsorgen.

      Manuel schaut auf eine Olive und sagt: „Trotzdem seid ihr Ausländer für diese Misere verantwortlich.“

      „Wir brachten euch aber auch die moderne Welt.“

      Alle lachen.

      „Scheiß auf die Moderne“, murmelt Estrella und bestellt einen Gin-Cola.

      „Will hier jemand behaupten, früher wäre es besser gewesen? Hat euch jemand ins Hirn gekackt?“, schreit Paco. „Früher war auch alles zum Kotzen, nur, wir haben es nicht gemerkt. Damals, damals, ich kack auf damals! Nur für José Luís war es besser, nicht, Kumpel, das Militär und Franco, wunderschön! Der Hurensohn vermisst bestimmt die verdammte Ordnung.“

      „Leck mich doch am Arsch“, sagt José Luís und schiebt sich ein Stück Schinken in den Mund.

      „No pasarán“, murmelt Estrella. „Jetzt kommt alles zurück, wie eine Welle aus Dünnschiss. Es lebe der Opus Dei.“

      „Da kommen wir nie mehr raus, nie mehr“, sagt Manuel.

      „Die Sozialisten haben das Geld in rauen Mengen verteilt, und wir wundern uns, dass nichts mehr da ist. Spanien ist am Arsch, glücklich werden wir hier nicht mehr“, sagt Paco. „Was meinst du, Ausländer?“

      „Ich denke, Glück und Angst schließen sich nicht gegenseitig aus. Man kann glücklich und ängstlich zugleich sein.“

      „Du spinnst“, sagt José Luís.

      „Wie, Angst?“, fragt Manuel.

      „Ausländer sind nun mal komisch, und ich werde nicht müde, das immer wieder zu unterstreichen“, sagt Paco.

      Ich überlege und sage dann: „Ich werde versuchen, euch das zu erklären. Es gibt da ein französischen Film mit Jean Rochefort und dieser hübschen Schauspielerin, ich weiß nicht, wie sie heißt …"

      „Kack auf die Franzosen!“, schreit José Luís.

      „Nein, wirklich“, sage ich, „das ist jetzt ernst. Also der Film heißt ‚Der Mann der Friseuse‘, ist schon eine Weile her. Es geht um die große