T. R. Schiemann

Am Ende fügt sich alles


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In erster Linie durch seine Erscheinung, aber, wichtiger noch, durch seine Intelligenz und seinen wachen Geist. Warum wir damals beste Freunde wurden, weiß ich nicht mehr. Vielleicht handelte es sich um eine Art Zweckgemeinschaft. Ich war in der Klasse einigermaßen beliebt und hielt meine schützende Hand über Walter, der sonst das Opfer ständiger Sticheleien gewesen wäre, und daraus zog er bestimmt seinen Nutzen. Man ließ ihn in Ruhe, weil wir als unzertrennlich galten. Was aber hatte ich von unserer Freundschaft? Wenn ich ehrlich bin, ging es mir darum, von ihm abzuschreiben. Außerdem erledigte er für mich die eine oder andere Hausaufgabe. Es erwies sich in jeder Hinsicht als vorteilhaft, einen Streber an seiner Seite zu haben. Die Lehrer redeten plötzlich von seinem positiven Einfluss, und die Eltern zeigten sich erfreut, dass ich mich nicht mehr so oft mit den schlimmsten Elementen der Klasse zusammentat. Walters Eigenschaften färbten ganz vortrefflich auf mich ab. Letztendlich jedoch mochte ich seine ruhige und ausgleichende Art, und ich war auch ein wenig stolz darauf, dass seine Noten unter meinem Einfluss ein wenig litten.

      Irgendwann machte es mir sogar Spaß, gemeinsam mit ihm Schulprojekte durchzuführen. Ich versuchte, das vor den anderen nicht an die große Glocke zu hängen und beteuerte, zu den Klassenarbeiten gezwungen worden zu sein. Ich gab mich gelangweilt und machte mich sogar über Walters Ernsthaftigkeit lustig. Ich boykottierte geradezu unsere gemeinsame Arbeit vor der Klasse. Selbstverständlich war ich mir darüber im Klaren, dass ich da unsere Freundschaft verriet. Deshalb versuchte ich, wenn wir alleine waren, und das mochte ich am liebsten, mit großer Begeisterung bei der Sache zu sein. Walter ignorierte meinen Mangel an Loyalität und nahm ihn als kleineres Übel in Kauf. Immerhin besser, als ohne Grund verprügelt zu werden. So dachte ich. Ich war noch zu jung, um meinem inneren Konflikt die nötigen Konsequenzen folgen zu lassen, und wenn ich es recht bedenke, bezweifle ich, dass ich es heute besser könnte.

      Einmal lud mich Walter zu sich nach Hause ein. Seine Eltern stammten aus Sachsen und waren wohl sehr früh ausgewandert. Der Vater besaß eine gut gehende Textilfabrik, und so wohnte die Familie in einem beeindruckenden Haus aus der Kolonialzeit.

      Ja, klar, in diesem Haus bin ich viele Jahre später und unter ganz anderen Umständen noch einmal gewesen. Und auch da aus dem Gefühl heraus, dass sich dort etwas für mich entscheidendes und dennoch schwer zu fassendes abgespielt hat.

      Aber zurück.

      Bei meinem ersten Besuch war nur die Mutter da. Ein blasses Wesen mit streng zurückgekämmtem Haar und rötlichen Pickeln in einem teigigen Gesicht. Sie lief hastig in dem riesigen Haus herum, lächelte grundlos, wenn sie uns begegnete und schaffte es, mir ein klein wenig Angst einzujagen. Dann blieb sie urplötzlich vor mir stehen und fragte mich mit schriller Stimme, ob ich ein Stück Kirschtorte haben wolle. Sie zuckte mit dem Kopf nach vorne und riss die Augen auf. Ich erinnere mich noch genau daran, dass Walter mir beruhigend seine Hand auf die Schulter legte und ich mich erstaunt zu ihm umdrehte. In seinem Blick lag eine Bestimmtheit, die ich noch nie an ihm bemerkt hatte.

      Ich besuchte Walter von da an öfter und lernte mit der Zeit auch die übrigen Familienmitglieder kennen. Der Vater war ein hochaufgeschossener Mann, ebenso dürr wie sein Sohn und von gelblich-fahler Gesichtsfarbe. Er sprach sehr selten und wenn es doch manchmal geschah, dass er den Mund aufmachte, konnte ich sein genuscheltes Sächsisch kaum verstehen. Die übrige Familie kicherte jedoch meistens, woraus ich schloss, dass er Humor hatte. Walters Bruder jedenfalls zitterte förmlich vor Vergnügen und murmelte seinerseits Unverständliches vor sich hin. Er hieß Peter, war ein paar Jahre älter als wir, und es fällt mir schwer, mich an ihn zu erinnern, Ich weiß noch, dass er die Angewohnheit hatte, unvermittelt aufzuspringen und geheimnisvoll zu verschwinden, wobei ihn nie jemand fragte, wo er hinwollte. Zum Glück fand die Familie selten zusammen, sodass Walter und ich uns selbst überlassen blieben. Wir verbrachten viel Zeit in einer Art Unterstand, den Walter sich im hinteren Teil des Hauses in einem selten benutzten Zimmer eingerichtet hatte. Dabei hatte er ein schweres und großes Tuch über einen Tisch geworfen und sich so eine kuschelige Höhle geschaffen, die, ausgelegt mit Kissen und bestückt mit allerlei besonderen Spielsachen, zu seinem Rückzugsgebiet wurde. Erst später erkannte ich, wie viel Walter eine derartige Enklave bedeutete. Die Tatsache, dass er mir diesen Ort zeigte, dass er durch diesen Vertrauensbeweis einen anderen, verborgenen Teil von sich preisgab, wurde von mir nie entsprechend gewürdigt.

      Eines Nachmittags, wir studierten gerade das winzige, grüne Blatt, das aus einer in nasser Watte gezüchteten Mungobohne gesprossen war, steckte die Mutter überraschend ihren Kopf in unsere Höhle. Ich erschrak, Walter jedoch schrie kurz auf, sein Arm zuckte hoch, und ich dachte sofort, er würde jetzt zuschlagen, als der Augenblick auch schon wieder vorbei war. Die Mutter zog sich zurück, und Walter kroch wortlos aus unserem Versteck. Es dauerte lange, bis er wieder auftauchte und das kleine Pflänzchen in die Hand nahm, als sei nichts gewesen. An dem Tag erfuhr ich von dem verborgenen Zimmer.

      Natürlich war mir schon früher aufgefallen, dass wir beim Herumtoben und Spielen einen bestimmten Bereich des Hauses mieden. Von außen gesehen war es ein Erker, der sich über beide Stockwerke erstreckte und der hinten wie ein Anhängsel des Hauses in den Garten ragte. Im unteren Teil versperrten stets geschlossene Jalousien den Blick ins Innere. Oben jedoch, im ersten Stock, hatte man die Fenster offensichtlich vergrößert und so einen großen halbkreisförmigen Glasturm geschaffen. Die Konstruktion hatte mich von Anfang an beeindruckt, zumal sie die Architektur des Hauses zugleich störte und bereicherte. Es war schwer zu erklären, aber mein Blick wanderte wie unter Zwang in die Höhe, sobald wir im Garten herumliefen. Ich glaube, ich fragte Walter immer wieder, was es mit dem Turm denn auf sich hätte, und immer wieder bekam ich eine ausweichende Antwort. Manchmal lächelte er verschwörerisch und murmelte etwas über ein geheimes Zimmer seines Vaters. Damals stellte ich mir dann vor, der Alte würde dort irgendwelche Experimente durchführen, irgendetwas Gruseliges, und ich sah ihn förmlich vor mir, wie er hinter einem riesigen Schreibtisch saß und mit seinen knochigen, braungefleckten Händen kleine Figuren aus Wachs formte, die er nachts zum Leben erweckte. Ich wollte dort hinein, doch Walter ließ sich nicht erweichen, er reagierte im Gegenteil immer unwirscher, wenn ich ihn drängte, doch endlich die Tür aufzuschließen. Die Tür blieb zu. So groß war meine Neugier, dass ich sogar meinen Eltern davon erzählte. Und da geschah etwas ganz Seltsames: Sie drucksten herum und versicherten mir, die Angelegenheit wäre harmlos, und es gäbe bestimmt eine einfache Erklärung für das Zimmer und auch für Walters Verhalten, und ich sollte mich nicht weiter in Sachen einmischen, die mich nichts angingen. Da dämmerte es mir, dass auch meine Eltern etwas verheimlichten.

      An jenem Tag also legte Walter vorsichtig die winzige Sprosse in ihre kleine Nische in das Licht einer wärmenden Glühbirne zurück, und ich erfuhr mehr, als mir lieb war. Zuerst sagte er gar nichts. Er schaute mich bloß abschätzend an, kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Er kam mir fremd vor, versunken in Gedankengänge, an denen ich nicht teilhaben sollte, und trotzdem fühlte ich mich diesem Menschen plötzlich viel näher als sonst. Das verwirrte mich. Dann straffte sich Walters Körper, er griff sich entschlossen meine Hand und zog mich eilig aus dem Unterstand. Ich wusste sofort, wohin er mich da zerrte, als könne er es nun gar nicht mehr erwarten, meinem Gedränge nachzugeben. Seine Hand zitterte, als er die Tür aufschloss. Ich trat hinter ihm ein. Zuerst war es sehr hell, die Nachmittagssonne ergoss sich durch die riesige Glasfront in das Zimmer, dann sah ich vor mir ein Gestänge, wie das Klettergerüst auf unserem Spielplatz. Ich konnte mir das nicht erklären. An der Decke hing ein überdimensioniertes Zahnrad, und ich glaubte, auch eine Kurbel zu erkennen und zwei kranartige Greifarme, die an einem Bettrahmen befestigt waren. Ein Bettrahmen. Ein Bett! Ich wagte nicht hinzugucken; es lag tatsächlich jemand auf einer Matratze. Da wusste ich es mit einem Mal: Vor mir stand eines jener komplizierten hoch gebauten Krankenhausbetten. Aber wer lag da drin? Klein. Kein Erwachsener. Und auch keine vertraute Form. Zwei dünne Ärmchen, die mit Lederschlaufen fixiert waren. Es war ein kleines Kind, das dort gefesselt lag und das sich schlangengleich, flüssig unter einem Bettlaken hin und her bewegte. Mir wurde flau im Magen. Ich wollte mich schon wegdrehen und wieder raus, aber Walter versperrte mir den Weg. Er sah mich an, doch ich konnte seinen Blick nicht deuten. Dann packte er mich und zwang mich, wieder in Richtung Kind zu schauen. Seine Hände bohrten sich in meine Oberarme, und ich spürte eine wütende Kraft, die keinen Widerstand duldete. Ich leistete auch keinen. Ich war zu erstaunt, so voller Fragen, die ich