T. R. Schiemann

Am Ende fügt sich alles


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wenig erstaunt. Ich war sehr wachsam, sehr bei mir. Vor uns die Holzkapelle, hell im einfallenden Licht.

      Sie sagte mir, wie schön sie diesen Ort fände, und ich ging darauf ein und tat so, als wäre das alles neu für mich. Genau am richtigen Punkt hielt ich an, und wie auf ein Zeichen kam der geifernde Hund herausgeschossen. Eva schrie und wollte instinktiv wegrennen. Ich warf mich schützend auf sie. Erwartungsgemäß hängte sich das Tier etwa zwei Meter von uns entfernt in seine Kette. Das Würgen und Schnauben bedrohlich nah. Ich war erleichtert, stolz, die Distanz richtig eingeschätzt zu haben. Mir ging es großartig, während ich das zitternde und ängstliche Bündel Mensch unter mir umklammerte.

      Die nächsten Tage verschwimmen. Ich saß wohl im Bus jetzt immer neben ihr. Ich fühlte mich sicher, vielleicht unverletzlich. Und hauptsächlich träge.

      Ich hätte die Sache mit dem Hund ausnützen können. Als sie mich aber einmal gegen Ende der Reise in Hammerfest mit auf ihr Zimmer nahm, blieb ich tatenlos. Wir tranken Bier auf ihrem Balkon. Wir hörten fünfmal hintereinander „Joan of Arc“ von Leonard Cohen. Es war schön. Sie erwartete offensichtlich einen Kuss von mir. Erwartete eine Geste. Ich ließ es vorbeigehen. Warum, weiß ich nicht mehr. Ich bin überzeugt, ich hätte in jener taghellen Nacht mit ihr schlafen können. In ihren Augen war ich ja so etwas wie ein Held gewesen.

      Wir verbrachten danach noch einen Tag in Hammerfest. Es gab dort nicht wirklich viel Aufregendes zu besichtigen. Die müden Reisenden scharten sich um den phallusförmigen Meridianstein. Hier hatten Russen, Schweden und Norweger im Jahr 1816 gemeinsam etwas vermessen. Ich stand mit Eva im Hintergrund. Sie hatte den Arm um mich gelegt. Mir nah. In gewisser Weise freute mich das. Danach marschierten wir auf einen Hügel und schauten von dort aus auf das kleine Fischerdorf und auf den Nordatlantik. Uns wurde bewusst, dass wir hier fast am Ende der Welt standen. Es war schon komisch.

      Am nächsten Morgen wehte ein kalter Wind über das Flugfeld. Auf uns wartete eine kleine zweimotorige Propellermaschine, die uns nach Oslo bringen sollte. Eva hasste das Fliegen, und als wir uns endlich in die engen Sitze gezwängt hatten, ließ sie sich von mir trösten. Ich versicherte ihr, dass Flugzeuge nur höchst selten abstürzten und dass Turbulenzen völlig ungefährlich wären. Es lief gut. Als wir in Oslo landeten, war Eva an meiner Schulter eingeschlafen. Kurz darauf trennten sich unsere Wege, sie musste an ein anderes Gate. Da waren wir nun, hielten uns an den Händen, tauschten Adressen aus. Sie hielt meinen Kopf, zog mich zu sich und berührte mit ihren wunderschönen Lippen meinen Mund.

      Hey, Federico, sagte sie und es klang wie eine Anerkennung.

      Dann ging sie, drehte sich noch einmal um und winkte. Ich blieb einfach stehen, ein wenig verwirrt. Ich fragte mich, für wen sie mich gehalten hatte.

      Bald darauf wurde unser Flug nach Hamburg aufgerufen.

      Kapitel 3: Südspanien, 2009

      Gut. Ich habe angefangen. Ich habe etwas niedergeschrieben. Der Text liegt ausgedruckt und wie ein stiller Vorwurf auf dem Schreibtisch. Bedauerlicherweise ist das mehrere Tage her. Seitdem habe ich die wenigen Zeilen immer wieder überarbeitet. Ich kenne die Worte auswendig. Aber ich habe kein Vertrauen mehr in ihre Aussagekraft. Bin ich erkennbar? Seht her, das bin ich, Federico Henschel. Oder besser: So war ich. Es ist noch zu undeutlich.

      Ich streiche jeden Tag um den Computer herum und erstarre meistens, wenn es darum geht weiterzumachen. Weiter. Wohin? Ich schiebe meine Notizen hin und her. Auf einigen Zetteln stehen Namen. Neulich habe ich ganz wichtig Eva durchgestrichen. Da, sieh her, geschafft! Aber das war es auch schon. Meine Kreativität erschöpft sich mittlerweile in Vermeidungsstrategien. Ich gehe einkaufen, gehe Kaffee trinken, gehe aufs Klo. Jetzt habe ich mir eine Routine auferlegt. Ich stehe zusammen mit Adriana auf, und während sie duscht, mache ich ihr Frühstück. Dann checkt sie kurz ihre E-Mails, und ich wasche das Geschirr vom Vortag ab. Wir unterhalten uns wenig, denn Adriana ist morgens sehr konzentriert, tastet in Gedanken schon den Tag nach Unebenheiten ab. Mir ist das recht, ich möchte sie nicht stören. Im Gegenteil, ich mag ihren Gesichtsausdruck. Entschlossenheit, die sich langsam aus den weichen Konturen einer vergehenden Schläfrigkeit herausschält. Dann verlässt sie die Wohnung, und ich höre, wie sie das Auto aus der Garage fährt, und dann ist es still. Meistens schlafe ich noch ein, zwei Stunden. Oder ich lese. Zur Zeit Somerset Maugham, von dem Adriana behauptet, er sei ihr zu verschachtelt, zu altmodisch.

      Nun ja, sie wird es wohl wissen.

      Früher oder später fühle ich mich gezwungen, den Computer einzuschalten, und sei es auch nur, um sein leises, elektronisches Sein im Hintergrund zu wissen.

      Ich bin dann gerne in der Küche, wir haben so eine offene amerikanische, mit einem Tresen, zwei Barhockern und dann gleich das Esszimmer mit der Schiebetür, die auf den riesigen Balkon geht. Und dahinter das Meer und an guten Tagen der Blick bis nach Afrika. Ich kann mich da verlieren. Stundenlang. Mit einer Flasche Bier in der Hand. Diese ganze Idee mit dem Schreiben ist vielleicht doch nicht so gut. Ich bin den ganzen Tag damit beschäftigt zurückzuschauen. So wie ich immer auf das Meer schaue. In die verschwommene Ferne eines Lebens.

      Wenn ich mal arbeite, dann im Gästezimmer. Von dort sieht man nur die Wand des Hauses nebenan. Es droht, was den Blick angeht, keine Ablenkung.

      Natürlich versuche ich mich zu konzentrieren. Ich verlasse die Wohnung so wenig wie möglich. Aber das hilft nicht wirklich. Ich stöbere stattdessen in Adrianas Sachen herum. In ihrer Unterwäsche. Im Schrank entdecke ich dann einen kurzen Rock oder ein ausgeschnittenes Kleid und stelle mir vor, wie sie darin aussah und versuche mich daran zu erinnern, wann sie es das letzte Mal anhatte.

      Was sonst? Ich gehe auf und ab.

      In einer Vitrine im Wohnzimmer haben wir allerhand Nippes herumstehen. Kristallschälchen. Porzellanfigurinen (nicht meine). Kästchen. Ein Foto von Adrianas Eltern in so einem Goldrahmen. Die Mutter, eine untersetzte Frau mit krausen grauen Haaren, sitzt kerzengerade auf einem unbequem aussehenden Stuhl. Der Vater steht hölzern dahinter, dicklich, dreiteiliger Sonntagsanzug. Menjoubärtchen, unzeitgemäß korrekt, würdevoll.

      Im Esszimmer hängt ein Druck an der Wand. Es ist Adrianas Lieblingsbild. Ich stehe oft davor und betrachte es eingehend.

      Im Gästezimmer läuft der Computer ohne mich weiter.

      Das Bild ist von Georges Seurat: „ein Sonntagnachmittag auf der Insel Grande Jatte“. Ich liebe das Licht, das von links auf die Uferböschung der Seine fällt und auf die Menschen, die, eingefroren in der Bewegung, eine hellgrüne Rasenfläche bevölkern. Der vordere Bereich liegt im Schatten. Der Betrachter hat das Gefühl, von seinem kühlen Plätzchen aus in die Hitze des Tages zu schauen. Wenn ich ganz nah herangehe, fällt mir auf, dass Seurat nur Pünktchen nebeneinander auf die Leinwand getupft hat. Reine Farben, ungemischt. Der Betrachter vollendet die Mischung in seinem Kopf. Aus winzigen Teilchen entsteht ein komplexes Ganzes. Das Bild strahlt eine wunderschöne Ruhe aus. Es ist praktisch eine Karikatur der Ruhe. Ich bin eigentlich glücklich, eine Frau an meiner Seite zu wissen, die so ein Bild schön findet.

      Heute sitze ich wieder entschlossen am Schreibtisch.

      Wie soll das weitergehen?

      Da spukt noch ein von den Jahren fast verschüttetes Erlebnis in meinem Kopf herum. Vielleicht sollte ich diese frühe Episode aus meinem Leben einfach einmal aufschreiben, um Klarheit zu gewinnen. Vielleicht muss das so sein.

      Also Eva und jetzt diese Geschichte mit Walter, das ist doch ein Ansatz. Und von dort aus: mal sehen.

      Kapitel 4: Mexico City, 1972

      Mein bester Freund hieß Walter. Eigentlich war Walter mir nicht wirklich ähnlich. Er war strebsam und korrekt und bedächtig in allem, was er tat. Er war ein alt wirkendes Kind, und seine Mutter zog ihn auch entsprechend an. Nach einem langen Schultag sah er nicht verdreckt, ja, derangiert aus wie wir anderen Kinder, sondern eher wie ein Messdiener in seinen gestärkten, kurzärmligen, bis zum Hals zugeknöpften Hemden. Die Hosen hatten messerscharfe Bügelfalten und waren meistens zu kurz geschnitten; dadurch wirkten