T. R. Schiemann

Am Ende fügt sich alles


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kein Ekel, den ich empfand, keine Furcht, es war Scham über mein Unvermögen, mich dieser Situation zu stellen. Ohne recht zu wissen warum, fühlte ich mich gedemütigt. Und Walter stand unmittelbar hinter mir, bedrohlich und erwartungsvoll. Was wollte er von mir? Ich nahm Einzelheiten in mich auf. Die Händchen, die sich ununterbrochen zu Fäusten ballten und wieder öffneten. Eine hellblaues Laken, hochgezogen bis an die Brust. Die Matratze mit einem gummiartigen Bezug, abweisend, klinisch, eingerahmt von diesem weißen, metallischen Gitter. Schließlich hörte ich das Kind wimmern, ganz leise, aber da war kein Schmerz, keine Verzweiflung in dem Geräusch, da war nur der Ton, so unmenschlich wie das Pfeifen aus einem erhitzten Wasserkessel. Ich ging näher heran, auch in der Annahme, dass Walter dies jetzt von mir erwartete. Ich beugte mich fasziniert über das Gesicht, getragen und gleichzeitig erregt von meinem plötzlichen Wagemut. Es wirkte friedlich, flach und seltsam konturlos, als wäre es auf den Kissenbezug gemalt worden. Ich verspürte den Drang, es zu berühren und war wohl gerade dabei, darüber zu streichen, als Walter mich grob zurückhielt, um mich gleich darauf eilig aus dem Zimmer zu bugsieren. Er schloss die Tür hinter sich, nun wieder bedachtsam und unaufgeregt, wie es seine Art war. Er lächelte mich sonderbar an und sagte mir, das sei sein kleiner Bruder, man könne sich das nicht vorstellen aber er sei wohl glücklich. Ja, wiederholte Walter mit verstellter, dröhnender Stimme, der sei glücklich. Ich stellte keine weiteren Fragen. Wir gingen herunter in die Küche, das heißt, ich folgte Walter etwas benommen, als er entschlossen vorging. Unten werkelte die Mutter. Der Geruch nach gekochtem Essen stieg mir unangenehm in die Nase. Sie stand mit dem Rücken zu uns, und ich sehe noch jetzt, nach all den Jahren, ihren straffen Dutt, die Bluse und den halblangen braunen Rock vor mir, die Schleife der Kochschürze, die blickdichten Strumpfhosen und die abgetretenen flachen Schuhe. Ich weiß das alles noch so genau, weil es im Nachhinein gesehen bloß der Vorspann zu einer denkwürdigen Szene war: Die Mutter drehte sich um, als wir bereits einige Sekunden im Raum standen. Sie lächelte. Doch ihr Lächeln erstarb, als sie Walters Gesichtsausdruck bemerkte. Das glaubte ich zumindest, da ich ja hinter ihm stand. Jedenfalls riss sie dann die Augen auf, fuhr sich in einer Geste schieren Entsetzens mit der Hand an den Mund, vielleicht, um einen Schrei zu verhindern und stürmte an uns vorbei aus der Küche. Erst dann wandte Walter sich mir zu. Mit einem bösartigen, fast triumphalen Grinsen und einer Gehässigkeit, die mich irgendwie mit einschloss, fragte er mich, ob ich eine Cola wolle. Wir verbrachten den restlichen Tag unter dem Tisch und redeten über alles andere. Ganz so, als sei nichts gewesen. Irgendwann holten mich meine Eltern ab, und ich schwieg die ganze Fahrt über. Was ihnen aber auch nicht wirklich auffiel.

      In den darauffolgenden Wochen lud mich Walter nicht mehr so oft zu sich nach Hause ein. Vielleicht zwei, drei Mal, ich weiß es nicht mehr, aber ich fühlte mich dort nicht mehr wohl. Den Vater und Walters Bruder Peter sah ich nie wieder, die Mutter grüßte mich mit flüchtiger Unfreundlichkeit. Und sowohl Walter als auch ich sahen ein, dass hier etwas unwiderruflich vorbei war. Im Nachhinein glaube ich jedoch, dass wir damals gar nicht ermessen konnten, was an jenem Tag wirklich geschehen war, und auch nach all den Jahren fällt es mir schwer, unsere Gefühle zu verstehen. Eines weiß ich jetzt aber sicher: In mein unbekümmertes, kindliches Leben hatte sich die unangenehme, ja, dunkle Erkenntnis geschlichen, dass nicht alles gut ist.

      In der Schule blieb anscheinend fast alles beim Alten. Ich schrieb weiterhin von Walter ab, und er kam unter der schützenden Hand meiner Freundschaft unbelästigt über die Tage. Aber eigentlich war das nicht mehr wirklich so. Man hatte sich langsam an Walter gewöhnt. Es gab kaum noch jemanden, der es lustig gefunden hätte, ihn zu hänseln, und als das Schuljahr sich langsam dem Ende zu neigte, sah ich seine magere, schlecht gekleidete Gestalt manchmal mit anderen in der Gruppe stehen; ganz so, als gehörte er dazu. Ich musste mir eingestehen, dass wir irgendwann nicht mehr unzertrennlich waren. Unsere Wege im Schulhof führten immer öfter in verschiedene Richtungen, und ich ertappte mich dabei, wie ich anfing, ihn mit Blicken zu verfolgen. Manchmal lief ich in seiner Nähe vorbei, in der Hoffnung, den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufzuschnappen, wenn er sich unterhielt. Walter änderte sein Verhalten mir gegenüber, er wirkte stärker und nicht mehr so eckig, mit neuem Selbstbewusstsein erfüllt. Dann wich er mir absichtlich aus. Es kam auch vor, dass er einfach durch mich hindurch sah, mich nicht wahrnahm, mir nicht zuhörte. Aber nicht nur ich suchte verstärkt seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, seltsamerweise wurde er auch von anderen Klassenkameraden häufiger angesprochen. Er lachte mit ihnen, anders, als er mit mir gelacht hatte. Ich fühlte mich betrogen. Was wussten die anderen schon über sein Leben, über seinen kranken Bruder oder über das Turmzimmer? Er hatte es schließlich mir gezeigt. Ich war sein Freund!

      Es gab Tage, da interessierte es mich nur noch, ob und wann Walter mich wieder zu sich nach Hause einladen würde. Ich verstand diese neue Situation nicht mehr, Warum verhielt er sich so abweisend, so unnahbar? Und wieso bestimmte er das? Zum Glück saßen wir im Klassenzimmer nebeneinander, und ich nutzte die Zeit, mit ihm ins Gespräch zu kommen, zwanglos und locker wie immer. Aber auch da wollte er nicht mehr so richtig, und schließlich setzte er sich sogar weg. Ich blieb alleine, sprachlos und enttäuscht.

      Langsam wurde ich wütend. Ich sann auf Rache und strafte Walter von nun an mit Verachtung, tat so, als wäre er Luft für mich. Und das ging eine Zeitlang. Ich rempelte ihn sogar, unter den verwunderten Blicken meine Mitschüler, einmal an. Ich machte mir den Spaß, Schlamm in seinen Ranzen zu füllen. Doch Walter reagierte nicht. Schließlich tat ich etwas sehr Schlimmes: Ich erzählte es überall herum. Ich machte mich lustig über den kleinen verwachsenen Bruder in dem gruseligen Zimmer. Ich beschrieb das Gestänge und die Kurbeln und das komische Krankenbett. Ich machte mich lustig über das platte Gesicht, das zufriedene Sabbern und beschrieb genüsslich das anhaltende, schrille Wimmern des zuckenden Wesens. Ich lästerte über den geisterhaften Bruder und die hässliche Mutter und ihr verpickeltes Gesicht. Ich beschrieb in allen Einzelheiten die kleine Höhle unter dem Tisch und entlarvte sie in ihrer ganzen einfältigen Kindlichkeit. Ich genoss das etwas betretene Gelächter meiner Zuhörer. Ich lachte, weil ich Walter verletzen konnte, weil ich mich befreit fühlen wollte. Aber in mir loderte nur der verzweifelte Wunsch, zurückkehren zu dürfen in die Wärme einer Freundschaft, von der ich wusste, dass sie nie mehr sein würde.

      Am letzten Schultag stürmte Walter in der großen Pause auf mich zu. Im Schlepptau hatte er drei oder vier seiner neuen Kumpels. Sie alle vermittelten den Eindruck von Ernst und Entschlossenheit. Mir war mulmig zumute, und gleichzeitig, für einen Sekundenbruchteil, wurde mir etwas schmerzlich klar: Walter war der Anführer der Gruppe. Mein ungläubiges Staunen fand ein jähes Ende, als mich der erste Faustschlag ins Gesicht traf. Es folgten weitere Schläge, Tritte, und ich war auf einmal hilflos einer furchtbaren Kraft ausgeliefert. Automatisch fing ich an, mich zu wehren, zurückzuschlagen. Wie von fern hörte ich das Gejohle der Schüler, die mittlerweile einen Kreis um uns gebildet hatten. Walter nahm mich in den Schwitzkasten. Seine Nase blutete. Ich sah die großen, roten Tropfen auf den Asphalt des Hofes platschen. Dann fiel ich, und Walter landete auf mir. Er schnürte mir die Luft ab. Japsend versuchte ich, mich zu befreien, aber ich schaffte es nicht. Ich hatte Angst und bot all meine Kräfte auf. Vergeblich. Er hatte mich fest im Griff, und ich schlug mit der flachen Hand auf den Boden. Ich wollte mich ergeben, wollte, dass es aufhört, Walters Blut ganz dicht vor mir. Er stieß mich förmlich mit der Nase hinein, ich hörte ihn keuchen, sein Unterarm bohrte sich erbarmungslos unter mein Kinn, und dann plötzlich ließ er los. Er stand auf, drehte sich einfach um und bahnte sich seinen Weg durch die Menge Schaulustiger.

      Walter wechselte im nächsten Jahr die Schule und verschwand aus meinem Leben.

      Kapitel 5: Südspanien, 2009

      „Lass mich einmal nachdenken“, sagt Adriana. Sie sieht aus dem Fenster. Draußen über dem Meer haben sich, unüblich für diese Jahreszeit, einige dunkle Wolken gebildet.

      „Ich glaube, was ich da vor mir sehe, sind Dielen.“

      „Holzdielen?“, frage ich.

      „Ja, schmal, alt und nicht mehr ganz poliert. Sie waren rau. Ich spielte irgendwas. Auf jeden Fall war es mit irgendwelchen kleinen Figuren.“

      Adriana konzentriert sich. Schiebt mit der Fingerkuppe ein paar Krümel auf ihrem Teller zusammen. Es ist Sonntagmorgen, wir trinken