T. R. Schiemann

Am Ende fügt sich alles


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Mutter sprach bei seinem Begräbnis erleichtert aus, was alle dachten:

      Das Glück hatte Onkel Erik bis zum Schluss nicht verlassen.

      Natürlich war es meinem Onkel im Lauf seines Lebens alles andere als gut gegangen. Beruflich hatte er nie Erfolg gehabt und auch später, als er sich selbständig machte, verliefen seine Geschäftsideen meist im Sand, und doch hielt sich hartnäckig das Gerücht, der Mann sei ein Lebenskünstler, ein Bonvivant. Sein ständiges Betteln um Geld wurde ihm als Pfiffigkeit ausgelegt, seine besoffenen Eskapaden lieferten den Stoff für lustige Anekdoten.

      Dies ist vielleicht die auffälligste Eigenschaft meiner Familie: die Fähigkeit, die Realität stets so zu verbiegen, dass man einfach durch sie hindurch gleiten kann.

      Mein Onkel hatte als er selbst keine Chance.

      Jetzt, da ich beschlossen habe, mir ein paar Notizen zu machen, vielleicht auch ein wenig ausführlicher über einige Ereignisse aus meinem Leben zu berichten, frage ich mich, ob auch auf mir dieser Fluch der Selbsttäuschung und Verzerrung lastet. Ob ich vielleicht deswegen nie wirklich irgendwo angekommen bin.

      Bin ich es jetzt? Ich will es vermuten. Tatsache ist nur, dass mein Weg mich hierher geführt hat, dass ich in diesem Zimmer an diesem Tisch sitze und die heiße Luft spüre, die durch die Balkontür herein weht.

      Unten auf der Straße knattert ab und zu ein Moped vorbei, ansonsten ist es still. Es riecht nach Sonne, nach glühendem Asphalt und Meer. Ich schaue auf das Gebäude gegenüber, auf die grelle, weiße Wand, und dann wieder auf den Bildschirm meines Computers. Meine Freunde haben mich immer wieder gedrängt, doch einmal aufzuschreiben, was ich ihnen manchmal bierselig erzähle. Aber das ist letztendlich egal und auch nur ein kleiner Anstoß. Vielmehr möchte ich mir über die Vergangenheit noch einmal Gedanken machen können. Besser gesagt, ich glaube, ich möchte sie noch einmal erfühlen, zu mir holen. Dieses Bedürfnis drängt sich immer deutlicher auf. Es ist ein unterschwelliges unangenehmes Summen. Ich fing also an, Stichworte auf allerlei Zettel zu kritzeln. Und die liegen nun vor mir. Einige kann ich nicht mehr entziffern. Auf anderen wiederum stehen kryptische Sätze. Auf vielen jedoch fing ich mir wichtig Gewesenes wieder ein. Daran werde ich mich erst einmal halten. Es ist schon merkwürdig, was mir da alles eingefallen ist, was für Erinnerungsfetzen plötzlich auftauchten. Erinnerungen, die jetzt immer wiederkehren und die gleichsam an Bedeutung gewinnen. Wie die Sache mit Onkel Erik. Da war ich acht.

      Ich will das alles erstmal nicht streng chronologisch ordnen, sondern eher grob in Richtung Gegenwart schreiben und sehen, was dabei entsteht.

      Ich weiß nicht wo mich das hinführt. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich mich herantaste, assoziativ vorgehe.

      Heute aber werde ich warten, bis die Hitze nachlässt, später noch einmal in der „Botica“ etwas trinken, meine Freunde treffen, Zeit verbringen, bis Adriana von der Arbeit kommt.

      Morgen geht es dann richtig los. Höchstwahrscheinlich.

      Kapitel 2: Rovaniemi, Finnland, 1976

      Also, es ist soweit, ich schreibe:

      Hinter dem Hotel fing gleich der Wald an. Ein enger Pfad zwängte sich zwischen Erlen und Birken hindurch, und es war dann auch gleich dämmerig und kühler. Da es sich an diesem heißen Tag angenehm anfühlte, ging ich weiter. Hinein in flirrendes, grünliches Licht, in den Geruch nach feuchter Erde. Hörte meine Schritte im Unterholz. Atmete tief durch. Ziemlich bald stieß ich auf eine Lichtung. Mittendrin stand, in warmes Sonnenlicht getaucht, eine kleine, roh gezimmerte Holzkapelle. Beim Näherkommen fiel mir auf, dass der Bau unfertig wirkte, eher wie eine dreidimensionale Skizze. Statt einer Tür gab es nur ein rechteckiges Loch in der Vorderseite. Ich ging näher heran und vernahm ein unterschwelliges Grollen, gefolgt von leisem metallischen Klirren. Fast im gleichen Augenblick sah ich ein großes gelbes Etwas auf mich zu rasen. Ohne nachzudenken drehte ich mich um und floh. Erst im Schutz der Bäume schaute ich zurück. Ein Untier bäumte sich dort auf. Die mächtigen Hinterläufe in den Boden gestemmt. Ich dachte sofort: ein Bär, und mir wurde übel. Ich wollte gerade weiterlaufen, als ich erkannte, dass ich gar nicht mehr verfolgt wurde. Vorsichtig, halb verdeckt von einem Baumstamm, wagte ich einen erneuten Blick. Kein Bär. Es war ein furchteinflößender, kraftstrotzender Hund. Soweit ich es aus dieser Entfernung beurteilen konnte, hing er an einer langen Kette, die sich um seinen Hals zuzog. Er fiel nach hinten, zerrte, jaulte und versuchte, sich zu befreien, vermutlich, um mich zu töten. Er drehte sich rasend vor Mordlust im Kreis, und ich konnte im Gegenlicht den Sabber erkennen, der ihm aus den Lefzen flog. Die Zunge hing ihm wie ein nasser roter Lappen aus dem Maul. Sein rasselndes Keuchen klang zu mir herüber. Mein Atem hingegen ging jetzt etwas ruhiger; ich empfand sogar eine kleine, fast grausame Genugtuung, weil sich das Tier so ergebnislos abstrampelte. Irgendwie siegreich trat ich den Rückzug an.

      Also, warum ich nach so langer Zeit gerade daran denken muss, ist mir nicht ganz klar. Ich könnte auch keinen stichhaltigen Grund nennen, warum ich diese Episode an den Anfang dieser Aufzeichnungen stelle. Vielleicht ist es ein Gefühl, das immer noch undeutlich nachhallt. Und ein Erklärungsversuch. Über die Jahre flackerte diese Erinnerung immer im Hintergrund. Ich schreibe sie einfach ebenso holprig auf, wie ich sie wachrufe.

      Ich war damals in jenem Sommer mit meinen Eltern unterwegs. Tage zuvor in Helsinki hatten wir uns bei ungeheurer Hitze die Stadt angeschaut. Es wurde nie dunkel. Im matten Schein der Mitternachtssonne lagen Betrunkene in Parks und auf Uferböschungen herum wie fallengelassene Puppen. Wir fuhren auch nach Leningrad. Wir besuchten die Eremitage. Schlenderten unter ständiger Aufsicht die Neva entlang. Bestaunten irgendwelche Prachtbauten.

      Ich weiß noch, da war ein kleiner Platz mit spärlichen Grünflächen, einer Kinderschaukel, einem bronzenen Leninkopf auf einem Sockel. Hin und wieder ertönten Politparolen aus öffentlichen Lautsprechern und dann, plötzlich und fremd, „Eleanor Rigby“ von den Beatles. Niemand horchte auf oder unterbrach sein Tun.

      Ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte.

      Mir geht es jedoch um diese Sache in Rovaniemi.

      Zurück im Hotel. Noch ein wenig zittrig. Ich ging durch die üppig mit Marmor ausgestattete Lobby und sah sie hinten schon auf ihren Barhockern. Sie wirkten angetrunken und alt und auch nicht besonders sympathisch. Meine Eltern. Kultivierte Großbürger. Ruhten in ihrem Selbstverständnis. Ich wollte plötzlich nicht mehr zu ihnen. Obwohl ich sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht verabscheute.

      Sie schritten vorgeblich sorgenfrei durchs Leben. Mein Vater musste nicht wirklich arbeiten. Zu verabredeten Terminen erschien er bei irgendwelchen Sitzungen und leistete seine Unterschrift. Er tat immer so, als hätte er das Sagen.

      Meine Mutter war zufrieden. Sie malte riesige Bilder. Sie liebte es, in ihrem Atelier zu stehen, viel Chablis zu trinken und meinen Vater bei sich zu haben. Alles ziemlich normal.

      Das dachte ich damals wirklich. Ich lag falsch.

      An jenem Tag in Rovaniemi aber lenkte mich Eva von meinen Eltern ab. Sie saß weiter hinten in der Lobby in einem tiefen Ohrensessel. Ihre Familie war in unserer Reisegruppe. Eva. Sie sah wirklich gut aus mit ihren kurzen, rötlichen Haaren, den Stirnfransen. Ein ebenmäßiges Gesicht und Jeanne-Moreau-Lippen. Mir gefiel ihre lässige Art. Sie winkte mir zu. Einer merkwürdigen Eingebung folgend, fragte ich Eva, ob sie Lust hätte, mit mir spazieren zu gehen. Ihr Lächeln war Antwort genug. Erwartungsvoll nahm ich sie mit hinaus in den heißen Nachmittag.

      Ohne groß zu zögern, ging ich wieder um das Hotel herum in den Wald und bog in den kleinen Weg ein, den ich vor nicht einmal zehn Minuten verlassen hatte. Eva hängte sich bei mir ein, doch zwischen den Bäumen war der Pfad wirklich sehr schmal. Vorsichtig löste ich ihren Arm von meinem und ließ sie vorgehen. Wieder war ich von der zwielichtigen Kühle angetan. Ich erlebte den feuchten Waldgeruch noch intensiver als vorher. Ich blieb dicht hinter ihr. Sie trug Jeans mit weitem Schlag, einem kleinen roten Stoffsaum und tief um die Hüfte einen breiten Ledergürtel. Ihr eng gehäkeltes rotes Top wurde hinten von einem Bändchen zusammengehalten und ließ ihren ganzen Rücken frei.

      Dann standen