Säuglingsstube.
Der gegenwärtige Repräsentant der Dedlocks ist ein vortrefflicher Herr. Er setzt bei allen seinen Leuten eine vollständige Abwesenheit individuellen Charakters und eigner Absichten und Meinungen voraus und ist überzeugt, daß er dazu da ist, seinerseits alle diese Mängel zu ersetzen. Sollte er einmal das Gegenteil entdecken, würde er einfach perplex sein und das Bewußtsein verlieren und wahrscheinlich nur wieder zu sich kommen, um noch einmal aufzuatmen und dann zu sterben. Aber er ist trotzdem ein vortrefflicher Herr und hält das für eine Pflicht seiner vornehmen Geburt. Er hat Mrs. Rouncewell sehr gern. Er nennt sie eine respektable, treffliche Frau. Er schüttelt ihr jedes Mal die Hand, wenn er nach Chesney Wold kommt oder wenn er abreist; und wenn er überfahren werden sollte oder ihm sonst ein Unfall zustieße, so würde er sagen, vorausgesetzt, daß er noch sprechen könnte: Laßt mich allein und schickt Mrs. Rouncewell her; denn er würde bei ihr seine Würde sicherer als bei andern aufgehoben wissen.
Mrs. Rouncewell hat Leid im Leben gar wohl erfahren. Der eine ihrer beiden Söhne schlug aus der Art, ging unter die Soldaten und ließ nie wieder etwas von sich hören. Selbst heute noch verlieren Mrs. Rouncewells ruhige Hände ihre Fassung, wenn sie von ihm spricht, und sie fahren unruhig hin und her, wenn sie sagt: »Was für ein hübscher Bursche, was für ein munterer, gutherziger, geschickter Junge er doch war!«
Ihr zweiter Sohn sollte in Chesney Wold untergebracht werden und wäre mit der Zeit Hausverwalter geworden; aber schon als Schuljunge hatte er die Gewohnheit, Dampfmaschinen aus Pfannen zu machen und Kanarienvögel dazu abzurichten, sich mit möglichst geringem Aufwand von Arbeit ihr Wasser selbst heraufzuziehen (und er kam ihnen dabei mit so raffiniert berechnetem hydraulischem Druck zuhilfe, daß ein Vogel, wenn er durstig war, sich nur mit der Achsel an das Rad zu lehnen brauchte, und die Sache war geschehen). Dieser Hang hatte Mrs. Rouncewell große Sorge gemacht. Mit der Herzensangst einer Henne, die Enteneier ausgebrütet hat, erkannte sie, daß das eine revolutionäre Richtung sei, denn sie wußte, daß Sir Leicester von jedem Hang für eine Kunst so denkt, die mit Rauch und einem hohen Schornstein irgend etwas zu tun hat. Aber da der verstockte junge Rebell, obwohl er sonst ein sanftes geduldiges Kind war, beim Älterwerden kein Zeichen der Besserung erkennen ließ, sondern im Gegenteil ein Modell zu einem Maschinenspinnstuhl baute, mußte sie sich doch endlich entschließen, unter Tränen dem Baronet seine Unverbesserlichkeit einzugestehen.
»Mrs. Rouncewell«, hatte Sir Leicester gesagt, »Sie wissen, ich kann mich mit niemandem herumstreiten. Schauen Sie, daß Sie den Jungen los werden; am besten ist, Sie stecken ihn in eine Fabrik. Die Eisenbaugegenden weiter nördlich wären, wie ich glaube, das beste für einen Jungen von solchen Neigungen.« Der Knabe ging also weiter nördlich und wuchs weiter nördlich auf, und wenn ihn Sir Leicester Dedlock jemals zu Gesicht bekam, oder jemals wieder an ihn dachte, so sah er in ihm jedenfalls nur ein Individuum von tausend ruß- und rauchgeschwärzten Verschwörern, die zwei oder drei Mal in der Woche nachts bei Fackelschein zu ungesetzmäßigem Treiben ausziehen.
Trotzdem ist Mrs. Rouncewells Sohn im Lauf der Zeit herangewachsen, hat geheiratet und sich selbständig gemacht und Mrs. Rouncewells Enkelseele aus dem Universum zu sich gerufen.
Dieser Enkel hat nun ausgelernt, ist von einer Reise nach fernen Ländern, wo er seine Kenntnisse erweitern und die Vorbereitungen für das Wagestück dieses Lebens auf Erden vollenden sollte, zurückgekehrt und steht jetzt, auf Besuch bei seiner Großmutter, an den Kamin gelehnt in deren Zimmer in Chesney Wold.
»Und nochmals und nochmals, es freut mich von Herzen, dich zu sehen, Watt! Und abermals, ich freue mich, dich zu sehen, Watt«, sagt Mrs. Rouncewell. »Du bist ein hübscher junger Bursche, deinem armen Onkel Georg so ähnlich. Ach!« – Mrs. Rouncewells Hände werden wie gewöhnlich bei Erwähnung dieses Namens unruhig.
»Man sagt, ich sei meinem Vater ähnlich, Großmutter.«
»Auch ihm, liebes Kind. Aber am ähnlichsten siehst du deinem armen, armen Onkel Georg; und dein lieber Vater« – Mrs. Rouncewells Hände werden wieder ruhig - »geht es ihm gut?«
»Sehr gut. In jeder Hinsicht, Großmutter.«
»Da bin ich dem Himmel dankbar!«
Mrs. Rouncewell liebt auch ihren zweiten Sohn, aber sie denkt an ihn mit einem gewissen Bedauern, so wie von einem Soldaten, der zwar tapfer ist, aber zum Feinde überging.
»Ist er glücklich?« fragt sie.
»Vollkommen.«
»Ich danke dem Himmel dafür. Also er hat dich in seinem Sinn erzogen und dich in fremde Länder geschickt und so? Nun, er wird es wohl am besten wissen. Es mag ja eine Welt außerhalb von Chesney Wold geben, die ich nicht verstehe, obgleich ich nicht mehr jung bin und doch auch viel gute Gesellschaft zu Gesicht bekommen habe.«
»Großmutter«, sagt der junge Mann und läßt das Thema fallen, »was war das für ein hübsches Mädchen, das vorhin bei dir war? Du nanntest sie Rosa.«
»Ja, Kind. Sie ist die Tochter einer Witwe im Dorf. Mädchen sind heutzutage so begriffsstutzig, daß ich sie schon als junges Ding zu mir genommen habe. Sie lernt gut, und es kann etwas aus ihr werden. Sie zeigt dem Fremden das Haus schon recht hübsch. Sie wohnt und ißt bei mir.«
»Ich hoffe, ich habe sie nicht vertrieben.«
»Sie glaubt wahrscheinlich, wir hätten Familienangelegenheiten zu besprechen. Sie ist sehr bescheiden. Eine gute Eigenschaft bei einem jungen Mädchen. Und gegenwärtig seltner«, sagt Mrs. Rouncewell und dehnt ihren Schnürleib zu seiner größten Breite aus, »als früher.«
Der junge Mann neigt das Haupt in Anerkennung der weisen Lehre. Mrs. Rouncewell lauscht. »Räder, horch!« sagt sie. Die jüngeren Ohren haben das Geräusch längst gehört. »Mein Himmel, was für ein Wagen kann das bei solchem Wetter sein?«
Nach einer kurzen Weile klopft es an die Tür.
»Herein!«
Eine schüchterne Dorfschöne mit dunkeln Augen und dunkelm Haar, so frisch in ihrer rosigen und doch zarten Blüte, daß die Regentropfen in ihrem Haar wie Tau auf einer frisch gepflückten Blume aussehen, tritt herein.
»Was sind das für Fremde, Rosa?«
»Zwei junge Herrn in einem Gig, Maam. Wollten das Haus sehen... Jawohl, ich sagte es ihnen schon«, setzt sie rasch als Antwort auf eine verneinende Gebärde der Wirtschafterin hinzu. »Ich ging an die Gartenpforte und sagte ihnen, es sei ein schlechter Tag und eine ungeeignete Stunde, aber der junge Mann, der kutschiert, zog den Hut bei dem Regen ab und bat mich, Ihnen diese Karte zu bringen.«
»Lies sie, lieber Watt!« sagt die Wirtschafterin.
– Rosa ist so verlegen, daß sie die Karte fallen läßt, wie sie sie dem jungen Mann geben will, und beide stoßen beinahe mit den Köpfen zusammen, als sie sich bücken. Rosa wird noch verlegner. –
»Mr. Guppy. Weiter steht nichts auf der Karte.«
»Guppy?« wiederholt Mrs. Rouncewell, »Mr. Guppy? Unsinn. Ich habe den Namen nie gehört.«
»Wenn Sie erlauben, dasselbe sagte er auch, aber er und der andre junge Herr wären erst gestern abend mit der Post von London gekommen zur Magistratsversammlung, zehn Meilen von hier. Und da sie bald fertig geworden seien und viel von Chesney Wold gehört hätten und beim besten Willen nicht wüßten, was sie mit der Zeit anfangen sollten, so wären sie trotz des Regens hierhergefahren. Sie sind Advokaten. Er sagt, er wäre zwar nicht bei Mr. Tulkinghorn, glaube aber, sich nötigenfalls auf Mr. Tulkinghorn berufen zu dürfen.«
– Als Rosa jetzt, wo sie fertig ist, bemerkt, daß sie eine lange Rede gehalten hat, wird sie noch verlegner. –
Mr. Tulkinghorn gehört gewissermaßen mit zu dem Edelsitz, und außerdem geht die Sage, daß er das Testament der Mrs. Rouncewell gemacht habe. Die alte Dame wird milder gestimmt, bewilligt den Gästen den Eintritt und entläßt Rosa. Der Enkel fühlt plötzlich in sich den Wunsch, ebenfalls das Haus anzusehen, rege werden und möchte sich der Gesellschaft anschließen. Die Großmutter freut sich, daß er sich dafür