»Sie war eine Dame von schöner Gestalt und edler Haltung gewesen. Sie klagte nie und sprach mit niemandem davon, daß sie ein Krüppel geworden war oder Schmerzen litt. Aber Tag für Tag versuchte sie auf die Terrasse zu gehen, und mit Hilfe eines Stocks und auf die steinerne Balustrade gestützt ging sie auf und ab, auf und ab, auf und ab, im Sonnenschein und im Schatten, und jeden Tag mit größerer Mühe. Da, eines Nachmittags, sah ihr Gatte, mit dem sie seit jener Nacht, mochte er sie bitten, wie er wollte, kein Sterbenswörtchen mehr gesprochen, aus dem großen Fenster an der Südseite, wie sie auf die steinernen Platten hinsank. Er eilte hinab, um sie aufzuheben, aber sie stieß ihn zurück, und als er sich über sie beugte, sah sie ihn fest und kalt an und sprach: 'Ich will hier sterben, wo ich gegangen bin. Und ich will hier gehen, wenn ich auch im Grabe liege. Ich will hier gehen, bis der Stolz dieses Hauses gedemütigt ist. Und wenn Unglück und Schande es ereilen wird, dann sollen die Dedlocks meine Schritte hören.'«
Watt sieht Rosa an. Rosa blickt auf den im Dunkel verschwimmenden Fußboden nieder, halb von Grauen erfüllt, halb verlegen.
»Und auf dieser Stelle starb sie. Und aus jenen Tagen stammt der Name 'Geisterweg'. Wenn der Schritt ein Echo ist, so ist er ein Echo, das nur nach dem Dunkelwerden hörbar wird und selbst dann nur von Zeit zu Zeit. Aber manchmal kehrt es wieder, und jedes Mal hört man es, wenn Krankheit oder Tod der Familie bevorsteht.«
»– oder Schande, Großmutter«, ergänzt Watt.
»Schande kommt nie über Chesney Wold«, entgegnet die Wirtschafterin.
– Ihr Enkel macht seinen Vorstoß mit einem: »Natürlich! Natürlich!« wieder gut. –
»Das ist die Geschichte. Woher der Schall auch kommen mag, es ist ein angsterregendes Geräusch«, sagt Mrs. Rouncewell und steht vom Stuhle auf. »Und was das Merkwürdigste ist, man muß ihn hören. Mylady, die sich vor nichts fürchtet, gibt selbst zu, wenn er einmal da ist, sei man gezwungen, ihn zu hören. Man kann sich nicht verschließen dagegen. Watt, hinter dir steht eine große Stehuhr, sie hat einen sehr lauten Schlag und kann auch Musik machen. Du weißt mit solchen Dingen umzugehen.«
»So ziemlich, Großmutter.«
»Nun, so zieh sie auf.«
Watt zieht sie auf, das Musik- und das Schlagwerk.
»Jetzt komm hierher«, sagt die Wirtschafterin, »hierher an das Kopfkissen von Mylady. Ich weiß nicht, ob es schon dunkel genug ist, aber horch! Kannst du den Schall auf der Terrasse hören, durch die Musik und das laute Ticken und alles andre hindurch?«
»Ja!«
»Das sagt Mylady auch.«
deckt eine Menge Sünden zu.
Es war interessant, beim Ankleiden vor Tagesanbruch hinaus zum Fenster zu schauen, in dessen schwarzen Scheiben meine Kerzen sich wie zwei Leuchtfeuer spiegelten, und zu beobachten, wie beim Hellerwerden die Nacht draußen schwand.
Die Aussicht wurde allmählich deutlicher, und wie sich die Landschaft zeigte, über die der Wind die Nacht über hingestrichen, fand ich ein Vergnügen daran, die unbekannten Gegenstände zu entdecken, die mich im Schlafe umgeben hatten.
Anfangs waren sie im Nebel nur schwach erkennbar, und einige verspätete Sterne schimmerten über ihnen. Dann dämmerte das Bild schnell größer und voller hervor, unmerklich vertrugen sich meine Lichter mit der morgendlichen Umgebung nicht mehr, die Finsternis in den Ecken meines Zimmers verschwand, und hell schien der Tag auf eine heitere Landschaft, gekrönt von der alten Abteikirche mit ihrem dicken Turm.
Alles im Hause war so in Ordnung und jedermann so aufmerksam gegen mich, daß mir meine zwei Bund Schlüssel nicht viel Arbeit machten. Immerhin hatte ich so viel zu tun mit dem Aufschreiben des Inhalts jedes kleinen Faches und Kastens auf eine Schiefertafel und dem Notieren, was vorrätig war an Eingemachtem und Konserven, an Flaschen und Glaszeug, Porzellan und andern Dingen, daß ich gar nicht glauben wollte, es sei schon Frühstückszeit, als ich klingeln hörte.
Ich lief hinunter und bereitete den Tee, welches verantwortliche Amt mir bereits übertragen war, und da sich alle etwas verspätet hatten und sich noch nicht sehen ließen, wollte ich den Garten ein wenig kennenlernen. Wie allerliebst, vorn die hübsche Allee und die Auffahrt, hinten der Blumengarten, und meine liebe Freundin oben am Fenster mir zulächelnd, als ob sie mich aus der Ferne küssen wolle. In der Auffahrt waren die tiefen Einschnitte der Räder, die wir gestern bei der Ankunft mit dem Wagen gemacht hatten, noch sichtbar, und ich bat den Gärtner, den Sand wieder zu glätten. Hinter dem Blumengarten befanden sich Gemüsebeete, ein Grasplatz und hübsche kleine Ökonomiegebäude. Das Haus selbst mit seinen drei Giebeln auf dem Dach, seinen abwechslungsreich geschnittenen Fenstern – einige ganz groß, einige winzig klein, aber alle entzückend –, mit seinem Spalier aus Rosen und Jelängerjelieber an der Südfront und seinem heimlichen, behäbigen, gastfreundlichen Aussehen war, wie Ada sagte, als sie mir am Arm des Hausherrn entgegenkam, ihres Vetters John würdig. Ein gewagter Ausspruch, aber er kniff sie nur dafür in die Wange.
Mr. Skimpole war beim Frühstück wieder so gewinnend wie gestern abend. Es stand Honig auf dem Tisch, und er knüpfte daran eine Bemerkung über die Bienen. Er habe nichts gegen Honig einzuwenden – und das schien sehr wahr zu sein, denn er ließ sich ihn sehr gut schmecken –, aber er wolle den übermäßigen Fleiß der Bienen nicht als Vorbild gelten lassen. Jedenfalls müsse die Biene Gefallen am Honigsammeln finden, sonst würde sie sich doch damit nicht abgeben; es verlange es ja niemand von ihr. Es sei gar nicht notwendig, daß sie soviel Aufhebens von ihren Neigungen mache. Wenn jeder Zuckerbäcker in der Welt herumschwärmen und egoistischerweise alle Leute auffordern wolle, ihn ja nicht zu stören, würde die Welt zu einem ganz unerträglichen Aufenthalt werden. Im übrigen sei es doch wirklich eine lächerliche Sache, sich aus seinem Besitz, kaum daß man ihn erworben, herausräuchern zu lassen. Von einem Fabrikanten in Manchester würde man sehr gering denken, wenn er zu keinem andern Zweck Baumwolle spänne. – Die Drohne halte er dagegen für die Verkörperung einer viel schöneren und weiseren Idee. Die Drohne sage ganz ohne Ziererei: »Ihr müßt mich schon entschuldigen, ich kann mich wirklich nicht ums Geschäft bekümmern. Ich befinde mich in einer Welt, wo es so viel zu sehen gibt und so wenig Zeit dazu ist, daß ich mir schon die Freiheit nehmen muß, mich umzuschauen und zu bitten, daß jemand für mich sorgt, dem nichts daran liegt, sich umzuschauen.«
Das war nach Mr. Skimpole die Drohnenphilosophie, und sie erschiene ihm als eine sehr gute Philosophie – vorausgesetzt, daß es der Drohne passe, mit der Biene auf gutem Fuß zu stehen, und das sei, soviel er wisse, immer der Fall, wenn nur nicht der wichtigtuende fleißige Knirps zuweilen seinerseits Späne machen und sich soviel auf seinen Honig einbilden wolle. – Er malte das Bild bis ins Kleinste aus, und es belustigte uns sehr, obgleich er die Sache ungemein ernst zu nehmen schien. – Die andern hörten ihm noch zu, als ich mich entfernte, um meinen neuen Pflichten nachzukommen. Sie nahmen mich einige Zeit in Anspruch, und ich ging, das Schlüsselkörbchen am Arm, durch die Korridore, da rief mich Mr. Jarndyce in ein kleines Stübchen, das neben seinem Schlafzimmer lag und zum Teil eine kleine Bibliothek mit Büchern und Papieren war, teils ein kleines Museum von Stiefeln, Schuhen und Hutschachteln.
»Setzen Sie sich, liebes Kind«, sagte er. »Sie müssen wissen, das ist mein Brummstübchen. Wenn ich schlechter Laune bin, gehe ich hierher und brumme.«
»Dann müssen Sie also sehr selten hier sein, Sir«, sagte ich.
»O, Sie kennen mich noch nicht. Wenn ich enttäuscht bin oder verstimmt – es liegt am Wind –, so flüchte ich mich hierher. Das Brummstübchen wird von allen Zimmern im Hause am meisten benützt. Sie kennen meine Launen noch nicht zur Hälfte, aber Gott, wie Sie zittern, mein Kind.«
– Ich konnte nichts dafür, ich nahm mich sehr zusammen, aber als ich mich allein sah mit diesem gütigen Menschen und in seine wohlwollenden Augen blickte und mich so glücklich, so geehrt und mein Herz so voll fühlte, küßte ich ihm die Hand. –
Ich