Rekruten des Kinderordens »Die Freude«, der sein Unglück in stumpfsinniger Ruhe zu tragen schien, muß ich ausnehmen.
»Sie haben Mrs. Jellyby einen Besuch gemacht, höre ich.«
Wir sagten ja, wir hätten eine Nacht dort zugebracht.
»Mrs. Jellyby«, fuhr die Dame in ihrem demonstrativen lauten harten Ton fort, so daß es mir vorkam, ihre Stimme habe auch eine Art Brille auf – ich möchte nicht zu bemerken versäumen, daß ihre Brille auf der Nase dadurch nicht verschönend wirkte, daß Mrs. Pardiggle gestielte Augen hatte, wie Ada sich ausdrückte –, »Mrs. Jellyby ist eine Wohltäterin der Menschheit und verdient hilfreiche Unterstützung. Meine Knaben haben zu dem afrikanischen Unternehmen beigetragen: Egbert 1 sh. und 6 d., das ganze Taschengeld für neun Wochen; Oswald 1 sh. und 1½ d., ebenfalls neunwöchentliches Taschengeld; die übrigen ihren bescheidenen Mitteln angemessen. Dessenungeachtet kann ich nicht in jeder Hinsicht mit Mrs. Jellyby übereinstimmen. Ich bin mit Mrs. Jellyby, was die Behandlung ihrer jungen Familie anbetrifft, nicht einverstanden. Es fängt übrigens an, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Man hat bemerkt, daß ihre junge Familie von der Teilnahme an der Sache, der sie sich widmet, ausgeschlossen ist. Sie kann recht haben, sie kann unrecht haben; aber ob sie nun recht oder unrecht hat, ich verfahre mit meinen Kindern anders. Ich nehme sie überallhin mit.«
Ich kam später zu der Überzeugung – ebenso wie Ada –, daß diese Worte es waren, die dem bösgelaunten Ältesten ein scharfes Geheul erpreßten. Er versteckte es schnell unter einem Gähnen, aber es fing als Geheul an.
»Sie gehen mit mir in die Frühmesse um halb sieben, das ganze Jahr hindurch mit Einschluß des tiefen Winters«, fuhr Mrs. Pardiggle im Galopp fort, »und sind um mich während der wechselnden Pflichten des Tages. Ich bin bei dem Schulkomitee, ich bin beim Besuchskomitee, ich bin beim Lehrkomitee, ich bin bei dem Almosenverteilungskomitee, ich bin Mitglied der lokalen Leinwandverteilungsgesellschaft und vieler allgemeiner Gesellschaften, und mit dem Wahlgeschäft hat vielleicht niemand soviel zu tun wie ich. Aber überall sind sie meine Begleiter und eignen sich auf diese Art die Kenntnis der Armen an und die allgemeine Geschäftskenntnis in Wohltätigkeitssachen – mit einem Wort, den Geschmack für diese Dinge, die ihnen im spätem Leben zur Befriedigung und ihren Nebenmenschen zur Hilfe gereichen werden. Meine Jungen sind nie leichtsinnig, sie verwenden ihr gesamtes Taschengeld unter meiner Anleitung zu Subskriptionen und haben so vielen öffentlichen Versammlungen beigewohnt, so viele Vorlesungen, Reden und Diskussionen mitangehört wie nur wenig Erwachsene. Alfred (fünf), der, wie Sie wissen, aus freier Wahl dem Kinderorden 'Die Freude' beigetreten ist, war eins der wenigen Kinder, das nach einer zweistündigen, eindringlichen Anrede von dem Vorsitzenden des Abends bei dieser Gelegenheit noch bewußtes Empfinden an den Tag legte.«
– Alfred glimmerte uns so böse an, als ob er die Schmach dieses Abends nie vergessen könne noch wolle. –
»Sie werden bemerkt haben, Miß Summerson, daß auf einigen der erwähnten Listen im Besitz unseres geschätzten Freundes Mr. Jarndyce die Namensreihe meiner jungen Familie mit O. A. Pardiggle F. R. S. = 1 £ – schließt. Das ist ihr Vater. Wir beobachten meistens immer das gleiche Verfahren. Ich lege zuerst mein Scherflein hin, dann zeichnen meine Jungen ihre Beiträge je nach dem Alter und den bescheidnen Mitteln jedes einzelnen, und dann schließt Mr. Pardiggle den Zug. Mr. Pardiggle schätzt sich glücklich, unter meiner Anleitung seine kleine Gabe beizusteuern, und so gestalten wir die Sache nicht bloß für uns angenehm, sondern auch, schätze ich, erhebend für andere.«
Gesetzt, Mr. Pardiggle speise bei Mr. Jellyby und Mr. Jellyby schütte nach Tisch Mr. Pardiggle sein Herz aus, würde Mr. Pardiggle sich auch zu einer vertraulichen Mitteilung gegenüber Mr. Jellyby bewogen fühlen? Ich wurde ganz wirr, als ich mich bei diesem Gedanken ertappte; er kam mir so von selbst in den Kopf.
»Das Haus liegt sehr hübsch hier«, bemerkte Mrs. Pardiggle.
– Wir waren froh, daß die Rede auf etwas anderes kam, traten ans Fenster und machten die Dame auf die Schönheiten der Aussicht aufmerksam, aber ihre Brillengläser schienen mir mit auffallender Gleichgültigkeit hinzusehen. –
»Kennen Sie Mr. Gusher?«
Wir mußten leider eingestehen, daß wir nicht das Vergnügen von Mr. Gushers Bekanntschaft hätten.
»Da verlieren Sie viel«, versicherte uns Mrs. Pardiggle mit gebieterischem Blick. »Er ist ein höchst eindringlicher, leidenschaftlicher Redner – voller Feuer! In einem Wagen auf dieser Wiese hier, die nach der ganzen Terrainbildung von der Natur wie zu einer öffentlichen Versammlung geschaffen scheint, würde er fast jede mögliche Gelegenheit stundenlang benutzen! Nun, meine jungen Damen!« Mrs. Pardiggle trat von ihrem Stuhl zurück und warf wie durch unsichtbare magische Kraft das ziemlich entfernte runde Tischchen, auf dem mein Arbeitskörbchen stand, um... »Nun, meine jungen Damen, haben Sie mich jetzt ganz ergründet?« – Das war eine so verwirrende Frage, daß mich Ada ganz fassungslos ansah. Mein eignes Schuldbewußtsein nach dem, was ich gedacht hatte, muß sich in der Farbe meiner Wangen ausgesprochen haben. – »Ich meine, meinen hervorstechendsten Charakterzug ergründet. Ich weiß, er ist so hervorstechend, daß er auf der Stelle zu entdecken ist. Ich breite ihn selber offen hin. Ja, ich gestehe es frei und frank, ich bin eine Frau der Tat. Ich liebe anstrengende Arbeit, ich finde Genuß an anstrengender Arbeit. Aufregung tut mir gut. Ich bin anstrengende Arbeit so gewöhnt, daß ich nicht weiß, was Müdigkeit heißt.«
– Wir murmelten etwas, daß das erstaunlich und sehr hübsch sei, oder etwas derart. Wir wußten zwar nicht den Grund, warum es erstaunlich oder hübsch sei, aber taten es aus Höflichkeit. –
»Ich weiß nicht, was es heißt, müde zu sein. Sie können mich nicht müde machen, versuchen Sie es nur einmal!« fuhr Mrs. Pardiggle fort. »Die Menge von Anstrengungen, die mir keine sind, die Unsumme von Geschäften, die mir obliegen, setzen mich manchmal selbst in Erstaunen, aber sie werden für mich zu nichts. Manchmal sind meine Jungen und Mr. Pardiggle schon vom bloßen Zusehen aufs äußerste erschöpft, während ich mich noch rühmen kann, frisch wie eine Lerche zu sein.«
– Der finstere älteste Junge sah womöglich jetzt noch böswilliger aus als vorhin. Ich bemerkte, daß er die rechte Faust ballte und damit dem Deckel seiner Mütze, die er unter dem linken Arme trug, einen heimlichen Schlag versetzte. –
»Diese Eigenschaft kommt mir bei meinen Rundgängen vortrefflich zustatten. Wenn jemand nicht hören will, was ich ihm zu erzählen habe, so sage ich nur: Ermüdung kenne ich nicht, guter Freund; ich werde nie müde und werde fortreden, bis ich fertig bin. Dieses Verfahren versagt nie! Miß Summerson, ich hoffe, ich werde sogleich das Vergnügen Ihrer Begleitung auf meinem Rundgang haben, und Miß Clare wird doch auch mitkommen?«
Anfangs versuchte ich, mich mit dem Hinweis auf meine häuslichen Pflichten zu entschuldigen. Da ich damit nicht durchkam, wandte ich ein, ich zweifle an meiner Befähigung zu solchen Dingen, sei zu unerfahren darin, meinen Charakter anders Gearteten anzupassen, um vom passenden Gesichtspunkt aus auf sie einzuwirken, und daß mir die feine Kenntnis des menschlichen Herzens fehle, die doch eine wesentliche Erfordernis bei diesem Werke sei. Ich sagte, ich hätte selbst noch viel zu lernen, ehe ich andre lehren könnte, und daß mein guter Wille allein nicht ausreiche. Alles das brachte ich mit wenig Selbstvertrauen vor, denn Mrs. Pardiggle war viel älter als ich, hatte große Erfahrung und war höchst gebieterisch in ihrem Auftreten.
»Sie befinden sich im Irrtum, Miß Summerson«, sagte sie, »aber vielleicht können Sie anstrengende Arbeit oder die damit verbundene Aufregung nicht aushalten. Wenn Sie vielleicht sehen wollen, wie ich ans Werk gehe, so will ich Sie jetzt recht gern mitnehmen, denn ich bin eben im Begriff, mit meinen Jungen einen Ziegelstreicher in der Nähe hier, einen sehr schlechten Charakter, zu besuchen. Auch Miß Clare, wenn sie mir die Ehre erweisen will.«
Ada und ich wechselten einen Blick und nahmen, da wir ohnehin ausgehen wollten, das Anerbieten an. Wir setzten unsre Hüte auf, kehrten nach kurzer Abwesenheit zurück und fanden die »junge Familie« gelangweilt in einer Ecke hinschmachten, während Mrs. Pardiggle im Zimmer auf und nieder schritt und alle leichteren Gegenstände mit der Schleppe umfegte. Sie ergriff sofort von Ada Besitz, und ich folgte mit der »Familie«.