hervor und traben zwischen der Sonnenschein- und schattenwechselnden Kolonnade der Rue de Rivoli und dem Garten des verhängnisreichen Palastes eines kopflosen Königspaars über den Place de la Concorde und die Elysäischen Felder durch das Sternentor aus Paris hinaus.
Um nur die Wahrheit zu sagen, sie können gar nicht schnell genug abreisen, denn selbst hier hat sich Lady Dedlock zu Tode gelangweilt. Konzert, Matinees, Oper, Theater, Spazierfahrt, nichts ist Mylady neu unter dieser abgenutzten Sonne. Erst vorigen Sonntag, wo arme Teufel fröhlich waren innerhalb der Stadt und in dem Palastgarten unter verschnittenen Bäumen und den Statuen mit ihren Kindern spielten oder auf den Elysäischen Feldern, noch elysäischer geworden durch künstliche Hunde und hölzerne Pferde, in Gassenbreite spazieren gingen oder draußen vor dem Tor um ganz Paris einen Kreis zogen von Tanzen, Liebelei, Weintrinken, Tabakrauchen, Gräberbesuchen, Billard-, Karten- und Dominospielen und unter Quacksalbern und anderm toten und lebendigen Abschaum, – erst vorigen Sonntag hätte Mylady in der Einsamkeit der Langweile und in den Klauen des Riesen Verzweiflung beinahe ihre eigne Zofe wegen deren guter Laune gehaßt.
Daher kann sie Paris jetzt nicht schnell genug verlassen. Seelische Ermüdung liegt vor ihr und hinter ihr – ihr Ariel hat einen Gürtel davon um die ganze Erde gelegt, den niemand lösen kann. Aber das einzige, wenn auch unzulängliche Heilmittel ist, immer von dem letzten Ort an einen andern zu fliehen. Also weg mit Paris! Man vertausche es mit endlosen Alleen und Queralleen winterlicher Bäume. Und wenn man wieder zum Vorschein kommt, so sei es einige Meilen weiter, wo das Sternentor nur mehr ein weißer, sonnenglänzender Fleck ist und die Stadt eine formlose, dunkle Masse in der Ebene, aus der sich zwei dunkle, viereckige Türme erheben, auf denen Licht und Schatten auf- und abwärts steigen wie die Engel in Jakobs Traum.
Sir Leicester ist zumeist in ruhevoller, selbstgefälliger Gemütsverfassung und langweilt sich selten. Wenn er sonst nichts andres zu tun hat, kann er immer seine eigne Größe betrachten. Es bedeutet eine große Annehmlichkeit für einen Mann, ein so unerschöpfliches Gebiet zu haben. Nachdem er seine Briefe gelesen hat, legt er sich in eine Wagenecke zurück und stellt Betrachtungen über seine Wichtigkeit in der »Gesellschaft« an.
»Sie haben diesen Morgen ungewöhnlich viel Briefe bekommen«, sagt Mylady nach einer langen Pause. Sie ist müde vom Lesen. Sie hat während der letzten zwanzig Meilen beinahe eine ganze Seite gelesen.
– Es steht aber nichts drin. Überhaupt nichts. –
»Ich glaube vorhin einen von Mr. Tulkinghorns langen Ergüssen gesehen zu haben.«
»Mylady sehen alles«, sagt Sir Leicester voll Bewunderung.
»Ach«, seufzt Mylady. »Er ist der langweiligste aller Menschen.«
»Er sendet mir – ich muß Mylady wirklich um Verzeihung bitten – eine Botschaft für Sie«, sagt Sir Leicester, sucht den Brief aus den übrigen heraus und öffnet ihn.
»Wir machten gerade Halt, um die Pferde zu wechseln, als ich an sein Postskript kam, und deswegen vergaß ich. Ich bitte um Entschuldigung.
Er schreibt...« Sir Leicester braucht so lange, sein Augenglas herauszunehmen und sich damit zurechtzufinden, daß Mylady eine etwas gereizte Miene annimmt. »Er schreibt hinsichtlich des Wegerechts... Ich bitte um Verzeihung, das war es nicht. Er schreibt... Ja! Hier ist's. Er schreibt: 'Ich bitte, mich Mylady, der, wie ich hoffe, die Luftveränderung wohlgetan hat, hochachtungsvoll zu empfehlen. Wollen Sie mir die Gunst erweisen, ihr zu sagen, da es vielleicht von Interesse für sie ist, daß ich ihr bei ihrer Rückkunft etwas in bezug auf die Person mitzuteilen habe, die das Affidavit in dem Kanzleiprozeß, das ihre Aufmerksamkeit so sehr erregte, kopiert hat. Ich habe sie gesehen.'«
– Mylady, vorwärts gebeugt, blickt zum Fenster hinaus. –
»So lautet die Nachricht«, schließt Sir Leicester.
»Ich möchte ein wenig zu Fuß gehen«, sagt Mylady plötzlich und blickt immer noch zum Fenster hinaus.
»Zu Fuß gehen?« wiederholt Sir Leicester in einem Ton des Erstaunens.
»Ich möchte ein wenig zu Fuß gehen«, wiederholt Mylady mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit. »Bitte, den Wagen halten zu lassen.«
Der Wagen hält. Der zärtliche Bediente springt vom Rücksitz, öffnet den Schlag und klappt den Wagentritt herunter, einer ungeduldigen Handbewegung Myladys gehorsam. Mylady steigt so rasch aus und geht so schnell, daß Sir Leicester trotz peinlichster Höflichkeit außerstande ist, ihr den Arm zu reichen, und zurückbleibt. Eine oder zwei Minuten verstreichen, ehe er sie einholt. Sie lächelt, sieht sehr schön aus, nimmt seinen Arm, geht ein paar hundert Schritt, ist sehr gelangweilt und nimmt ihren Sitz im Wagen wieder ein.
Das Gerassel und Geklapper wird den größten Teil von drei Tagen unter mehr oder weniger Schellengeklingel und Peitschenknallen, mehr oder weniger Aufbäumen der Zentauren und sattellosen Pferde fortgesetzt.
Die altadlige Höflichkeit, mit der sich das Ehepaar behandelt, bildet in den Hotels, in denen es absteigt, den Gegenstand allgemeiner Bewunderung.
»Wenn auch Mylord ein wenig alt für Mylady ist«, sagt Madame, die Wirtin zum »Goldenen Affen«, »und eigentlich ihr zärtlicher Vater sein könnte, so sieht man doch auf den ersten Blick, daß sie sich lieben.«
Man sieht, wie Mylord in seinem weißen Haar, den Hut in der Hand, Mylady aus dem Wagen und in den Wagen hilft. Man sieht, wie Mylady Sir Dedlocks Höflichkeit anerkennend hinnimmt, indem sie ihr anmutiges Haupt neigt und ihm die Fingerspitzen ihrer so vornehmen Hand überläßt! Es ist hinreißend!
Das Meer weiß große Männer nicht zu würdigen und schüttelt sie herum wie unbedeutende Plebejer. Es pflegt stets hart auf Sir Leicester einzuwirken und auf seinem Gesicht grüne Flecken wie auf Salbeikäse hervorzubringen und in seiner aristokratischen Konstitution erschreckliche Revolutionen zu verursachen. Das Meer bedeutet für ihn das Radikale in der Natur. Doch endlich, nach einer kurzen Rast der Erholung, bändigt seine Würde auch den Ozean, und er reist mit Mylady weiter nach Chesney Wold und übernachtet nur einmal in London auf dem Wege nach Lincolnshire.
Durch denselben kalten Sonnenschein, der immer kälter wird, je mehr sich der Tag neigt, und durch denselben scharfen Wind, der immer schärfer wird, wie die einzelnen Schatten der kahlen Bäume im Wald zusammenfließen und der Geisterweg an seiner westlichen Ecke von einer Feuersäule am Himmel erhellt wird und sich auf die kommende Nacht gefaßt macht – fahren sie in den Park ein.
Die Krähen in ihren luftigen Häusern in der Ulmenallee scheinen die Frage zu besprechen, wer in dem unten dahinrollenden Wagen sitzt; einige scheinen ganz einverstanden, daß Sir Leicester und Mylady angekommen sind, andre streiten mit den Unzufriedenen, die es nicht zugeben wollen; dann sind alle einig, die Frage als erledigt zu betrachten, plötzlich brechen sie aber wieder in heftigen Streit aus, aufgereizt durch einen hartnäckigen, verschlafenen Vogelkameraden, der noch ein letztes widerspruchsvolles Krächzen hören ließ.
Der Reisewagen kümmert sich nicht darum und rollt auf das Haus zu, wo durch die Fenster warme Feuer scheinen, aber nicht genug an Zahl und nicht so hell, um der dunkeln Masse der Front den Anstrich des Bewohntseins zu geben. Aber der glänzende und auserwählte Kreis wird das bald ändern.
Mrs. Rouncewell steht bereit und erwidert Sir Leicesters gewohnten Händedruck mit einem tiefen Knicks.
»Wie geht's Ihnen, Mrs. Rouncewell? Es freut mich, Sie zu sehen.«
»Ich hoffe, ich habe die Ehre, Sie in bester Gesundheit bewillkommnen zu dürfen, Sir Leicester.«
»In bestem Wohlbefinden, Mrs. Rouncewell.«
»Mylady sieht ausgezeichnet wohl aus«, sagt Mrs. Rouncewell mit einem zweiten Knicks.
Mylady gibt, ohne viel Worte zu verschwenden, zu verstehen, daß sie sich so langweilig wohl befinde, wie sie nur hoffen kann.
Rosa steht im Hintergrund hinter der Wirtschafterin, und Mylady, die eine schnelle Beobachtungsgabe nicht verlernt hat, was sie auch sonst alles überwunden haben mag, fragt:
»Wer