Gabriele Engelbert

Magdalenas Mosaik


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Hauptsache. Deswegen war sie hier in Elbing.

      Am 11. Februar 1908 hielt sie ihr „Prüfungs-Zeugnis“ in Händen. Sie wurde, so stand es darin, „nachdem sie ihre sittliche Führung und ihre körperliche Befähigung für den Lehrberuf durch Zeugnisse dargelegt, von der unterzeichneten Kommission am 10. und 11. Februar vorschriftsmäßig geprüft.“ Nun war sie „befähigt zum Unterricht an mittleren und höheren Mädchenschulen“, unterzeichnet von der „Königlichen Prüfungs-Kommission für Lehrerinnen“ des „Königlichen Provinzial-Schul-Kollegs von Westpreußen“.

      Soweit, so gut. Inzwischen war sie fast 19 Jahre alt und wirklich erwachsen. Naja, so meinte sie jedenfalls meistens. Aber wie wichtig war das eigentlich? Wichtig für die Menschen um sie herum? Wichtig für sie selbst? Wichtiger war doch wohl das, was sie gelernt hatte, oder?

      Jetzt war sie immerhin Lehrerin. Also her mit irgendwelchen Mädchen oder Mädchenschulen, bitteschön, wo sie unterrichten konnte.

      Wer ist Magdalena?

      Ja, da saß sie also Jahrzehnte später in der Haynstraße. Gerade hatte sie zurückgedacht an ihre Jugend. Jetzt betrachtete sie fast irritiert ihre blau geäderten Hände, die altersgekrümmten Finger, die den Stift hielten. Faltige Haut, sehnige, leberfleckige Hände waren das geworden, an den Knöcheln verdickte Finger. Wie war sie früher stolz gewesen und eitel auf ihre schlanken, biegsamen Hände, jawohl. Und auf ihre Geschicklichkeit damit. Die hatte sie immer wieder gebraucht zum Schreiben, zum Verbände-Anlegen, Klavierspielen, zum Teigkneten, zum behutsamen Streicheln oder Kartenspielen. Verbraucht, abgenutzt sahen sie jetzt aus, diese alten Hände. Sie lächelte unwillkürlich, als sie an ihre damalige Eitelkeit, besonders ausgeprägt in den Jahren in Elbing -, zurückdachte. Zwar hatte sie eigentlich nie so dämlich angepasst gepflegt und auf Äußeres bedacht sein wollen wie ihre Schulkameradinnen, oh nein. Aber, oh ja, genauso angepasst dämlich und naiv war sie doch oft gewesen. Obendrein arrogant und leider besserwisserisch, oft überheblich. Weiß Gottchen, sie hatte sich zeitweise für etwas Besonderes gehalten. Hatte mit hochgereckter Nase ihren Charme in die Freundesrunde gestrahlt und begierig die Hände, Augen und Ohren aufgehalten nach Schmeicheleien. Energiegeladen vom Kopf bis in die Zehenspitzen eben, so war sie immer, und dagegen ließ sich anscheinend nichts tun.

      Amüsiert blickte die alte Lene auf ihre wie Leder gegerbten Altershände. Jawohl, die Beweise lagen vor ihr. Meine Güte, damals, besonders zwei Jahre vor dem Abschluss des Seminars in Elbing, war sie diese überspannten, unschuldigen und backfischalbernen Jahre alt gewesen.

      Damals also, mit 16 Jahren, war sie allmählich komisch geworden. Ähnlich wie die meistern Mädchen ihres Alters wahrscheinlich. Man nannte sie nicht Teenager, wie es heutzutage hieß, sondern Backfische, das bedeutete, im Laufe des Backvorgangs im „Ofen“ der Umgebung, also noch nicht fertig. Backfisch traf dieses Alter viel besser als das Wort „Teenager“, was ja nur eine zeitliche Einordnung enthielt. Diese Jahre mit all ihren Merkwürdigkeiten, dem Unfertigen, Unsicheren, den vielen Fragen und der Auflehnung gegen alles Alte. Merkwürdigerweise wurden aber früher nur Mädchen so betitelt. Waren Jungens nie im Backfisch-Alter? Weder albern, noch unsicher, weder vorlaut, noch schüchtern, weder aufsässig, noch frech und kratzbürstig? Oder verschwieg man damals etwas und hatte man sich stattdessen wieder einmal nur über Mädchen-Allüren lustig gemacht?

      Wieder musste die alte Lene lächeln. Nein, inzwischen wusste sie es in der Tat besser. Wusste, dass Jungen ebensolche Backfische waren, oft dazu besessen von lachhaft tollkühnem Übermut und pfiffigem Erfindungsreichtum oder überspannten Ideen. Hier passte der Ausdruck Teenager jedenfalls besser und galt für beide Geschlechter.

      Lenchens Art komisch zu werden, war damals allerdings etwas anders als bei ihren Altersgenossinnen. Obwohl sicherlich jede von ihnen so ihren eigenen krausen Vorstellungen und Träumen nachhing.

      Lenchen war nicht mehr das Nesthäkchen, sondern Lene. In Elbing begann sie sich selbst zu entdecken. Vielleicht hatte sie auch ein Inneres und ein Äußeres? So wie sie es früher bei Papa und Mama gemerkt hatte? 0der anders?

      Sie war auf jeden Fall nicht so wie ihre Schwestern, nein, da war sie sicher. Sie liebte und bewunderte alle, aber so wie eine von ihnen wollte und könnte sie nie sein, dachte sie. Warum auch? Jede war verschieden, so wie ein farbenprächtiger Blumenstrauß hielten sie deshalb aber umso fester zusammen. Wenn sie beispielsweise an die liebe Lotte, die Älteste, dachte, ach, du liebe Zeit, die Ärmste war mit 14 Jahren von der Schule abgegangen, um zu Hause mit anzupacken und sich nützlich zu machen. Als ihre Mutter schwanger wurde mit Lenchen, brauchten die anderen fünf Geschwister Aufsicht, der Haushalt geschickte Hände. Lotte konnte alles. Anscheinend hatte sie das immer gekonnt. Sie war tüchtig, fleißig, flink, und sie fragte nicht viel, sondern guckte, wo zu helfen war und half. Nach einem Jahr zu Hause fand sie eine Stelle als Hausmädchen bei einer russischen Familie. Ihre Eltern willigten ein, so zog sie mit nach Bialystok und war auch dort bei der Familie und im Haushalt bald nicht mehr wegzudenken. Ja, was einen Haushalt anging, so konnte man sich niemanden vorstellen, der da vorbildlicher sein konnte. Völlig unbegreiflich, fand Lenchen. Hatte Lotte das eigentlich so gewollt? Oder war sie einfach nie auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, was sie eigentlich wollte, sondern hatte alles so genommen, wie es ihr geschah? Und später wurde sie auch noch Krankenschwester. Eine perfekte Hausfrau also, oder? Kein Wunder, dass sie im vorigen Jahr ihren Landvermesser Fritz heiratete. Gleichzeitig als ja auch Dore ihren lustigen Leo heiratete. Dore hatte nach der Schulzeit keine weitere Ausbildung gehabt, sondern stattdessen mal in einem Kaufhaus, mal in einem Versandgeschäft gearbeitet. Da hatte sie gelernt Pakete zu packen. Niemand war so schnell und geschickt, Pakete zu verschnüren wie Dore. Aber ebenso genoss sie, wie alle Kinder des Gymnasialdirektors, viele geistige und kulturelle Anregungen, Dore hatte kunstgewerbliche Dinge hergestellt und auch mit der Malerei angefangen, allerdings nicht so intensiv wie ihr Bruder Ernst. Ihr größtes Interesse galt Konzerten und dem Theater. Dass sie umsichtig, tüchtig und im Nu einen Haushalt führen konnte, schien ihr selbst eine selbstverständliche Nebensache zu sein. Martha, naja, die war meist etwas im Hintergrund der Familie, zurückhaltend, immer liebenswert und sehr auf Tradition bedacht. Und Therese, na, die war ja die fantasiebegabte Dichterin. Zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen zog sie gereimte Verse aus dem Ärmel, gewitzt mit familiären Eigenheiten, Stichworten und Schrullen, für viele Nichteingeweihte völlig unverständlich.

      Ihre Schwestern hatten wenig Zeit gehabt, – oder es nicht unbedingt erstrebenswert gefunden? –, sich in erster Linie weiter zu bilden, obwohl keine von ihnen ungebildet war. Papas Verdienst? Stattdessen waren sie, zwar lebhaft und kreativ, aber ziemlich brav in etwa die Rollen geschlüpft, die von ihnen erwartet worden waren. Hatten Papa und Mama das angestrebt? Oder wer sonst? Und warum war das bei ihr selbst anders?

      Nein, das kam für Lenchen alles nicht in Frage. In der Schule war sie hier natürlich, ähnlich wie zuvor in Osterode, eine von vielen und eine, der alles leicht fiel. Aber am Nachmittag gab es weder Vaters Kontrollblick, noch Mutters Fürsorge. Nein, jetzt streckte das ehemalige Nesthäkchen seine Erwachsenen-Nase wohin und zu wem es ihm gefiel. Lenes Neugierde war grenzenlos. Ihre meist sehr direkten Fragen wurden mit Lachen, Spott oder mit Ablehnung quittiert. Sie selbst lachte auch immer gern, sogar über sich selbst. Provozierte gern, half aber auch gern jedem, der irgendwie in Nöten war, - meistens bei Dingen, die das Lernen und die Schularbeiten betrafen. Kurz und gut: Sie probierte alles aus, was ihr über den Weg lief. Und das war nicht wenig. Sie hielt wissbegierig nach allem Ausschau, was da so gelaufen kam.

      Halb ernsthaft, halb lachend versuchte sie bei jenen „Mädchengesprächen“ zuzuhören und mitzureden: sich über die neuste Mode den Kopf zu zerbrechen, die Pickel im Gesicht zu dramatisieren, die Probleme erster, aussichtsloser Liebe zu beklagen oder die Tricks ausfindig zu machen, wie man sich mit der Brennschere so wahnsinnig engelsgleiches, gelocktes Haar zulegte. Bei all dem versuchte Lene mitzuhalten, - nein, das lohnte meist doch nicht die Zeit, jedenfalls nicht so unendlich, fand sie. Viel lieber diskutierte sie mit Freunden über Politik, das war anregend. Allerdings staunte sie oft heimlich über das eng begrenzte Blickfeld, regte sich auf über die niedrige Horizontlinie, die scheinbar außerhalb Deutschlands oder gar Ostpreußens aufhörte und über die viele anscheinend nicht