Spätestens jetzt machte Chris sich Sorgen. Er hätte alles Recht, Dorian die Pest an den Hals zu wünschen, aber nach allem, was er mittlerweile wusste und sich zusammengereimt hatte, erschien ihm das nicht mehr verhältnismäßig. »Warum?«
»Was kümmert dich das überhaupt?« Adrian sah aus, als drehte es ihm mit jedem Gedanken an die Sache den Magen noch ein Stückchen weiter um. »Steht die ganze verdammte Welt auf dem Kopf oder was?«
»Aus meiner Perspektive schon«, erwiderte Chris, weil er nicht anders konnte. Im nächsten Moment duckte er sich unter einem Schlag weg, stolperte über seinen Mantel und bekam überraschend Adrians Fußgelenk zu fassen, als er nach Gleichgewicht suchte. Sie gingen beide mit einem unterdrückten Stöhnen zu Boden, aber Chris stand zuerst wieder auf.
Die Gelegenheit musste er nutzen, ob sein Gewissen wollte oder nicht. Ehe er es sich versah, stand er über Adrian, einen Fuß auf dessem rechten Schlüsselbein, um ihn am Aufstehen zu hindern.
»Wag es nicht«, flüsterte der Engel zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, wollte nach hinten rutschen und kam höchstens ein paar Zentimeter weit. »Wir lassen dich nicht in Ruhe, wir werden dich jagen und Luzifer wird dich quälen, bis du um Gnade flehst. Glaub ja nicht, dass du jetzt gewonnen hast!«
›Ich glaube nicht, dass gerade irgendjemand irgendetwas gewinnt‹, dachte Chris. Er könnte Adrian laufen und mit Schrecken davonkommen lassen, oder einen Fehler machen und sich seinem Schicksal stellen. Aber das eine half ihm nicht weiter und das andere verbot ihm sein Überlebensinstinkt.
›Ich wünschte, mich würde jemand zwingen. Egal wer. Hauptsache, ich hätte die Freiheit nicht.‹
Chris kniff die Augen zusammen, als müsste er das alles dann nicht erleben müssen, ballte die Fäuste, atmete tief durch. Versuchte, allen Hass auf die Welt, auf Luzifer und seine Leute und auf die Gesamtsituation zu kanalisieren, damit es sich zumindest für den Moment nicht mehr schlimm anfühlte, und trat zu. Adrian gab einen unterdrückten Schmerzensschrei von sich, dann noch einen, und danach wimmerte er nur noch. Chris wollte sich zurückhalten, verfolgen würde er ihn jetzt nicht mehr, aber zumindest die Schmerzen wollte er Adrian ersparen. Wenigstens irgendeine Form von Gnade. Nicht, dass das groß zählte.
Er behielt die Augen geschlossen und hörte nicht auf zu treten, bis er das Gefühl hatte, dass da nur noch ein lebloser Körper unter ihm lag. Ruckartig löste er sich aus seiner Trance, und stolperte mehrere Schritte nach hinten, während das Realisieren einsetzte. Die Übelkeit schlug ihm in den Magen, Chris fiel zurück auf den Boden und konnte die ohnehin schon kläglichen Reste seines Essens nicht mehr länger bei sich behalten. Seine Gedanken flossen immer zäher, bis sie schließlich ganz die Arbeit einstellten. Alles um ihn herum kam ihm nicht länger real vor.
Chris blieb am Boden sitzen, hielt sich den Magen, würgte wieder, aber es kam nichts mehr. Das Adrenalin ließ nach und ließ ihn am ganzen Körper zittern, bis er sich Dorians Decke zurückwünschte, ein Bett zum verkriechen und jemanden, der ihn festhielt und ihm sagte, dass alles wieder gut wurde. Irgendjemand, der ihn verstand.
›Was bin ich geworden?‹
Er zwang sich, die Augen zu öffnen und wenigstens anzusehen, was er angerichtet hatte. Zuerst glaubte er, vor lauter Verwirrung Adrians Leiche nicht mehr wiederzufinden, dann fiel ihm eine einzelne, schwarze Feder vor die Füße. Dann noch eine. Dann begann es in der Hölle zu regnen.
Tausende Federn hingen wie schwerelos in der Luft, sanken anschließend zu Boden und bildeten einen schwarzen Teppich auf dem blutig roten Stein. Sie konzentrierten sich an der Stelle, an der Adrian liegen sollte, doch von ihm fehlte jede Spur.
Chris kam nicht umhin, den Anblick merkwürdig schön zu finden, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Er wollte die Hand ausstrecken und eine der Federn berühren, zuckte aber wenige Millimeter davor zurück. Es kam ihm nicht richtig vor.
Ein leichter Windstoß kam auf. Die Federn wirbelten durcheinander, schienen sich einen Moment lang den Kräften widersetzen zu wollen, und ließen sich dann doch in die Ferne tragen. Hunderte andere blieben auf dem Boden liegen, als wollten sie Chris daran erinnern, sich auch das hier nicht einzubilden.
›Hoffentlich kannst du so etwas wie Frieden finden‹, dachte er. Er umklammerte den Anhänger mit beiden Händen, hielt sich daran fest, klammerte sich ans Hier und Jetzt, damit die Panik ihn nicht holte. Trotzdem schlich sie um ihn herum, kroch ihm in den Nacken, und wartete auf den Moment, in dem Chris in sich zusammenfiel.
»Es tut mir leid.« Mit jedem Wort wurde er heiserer. »Du hast das nicht verdient, es tut mir so leid.«
Er gab sein Bestes, um zu weinen, aber die Hitze trocknete seine Tränen aus.
16
Metatron
11. November
Himmel
Niemand von ihnen war gerne hier, das sah Metatron den Erzengeln deutlich an. Er selbst versuchte, seinen Unmut so gut wie möglich zu verbergen, aber da ihn in niemand darauf ansprechen würde, wusste er erstens nicht, ob er damit Erfolg hatte, und fühlte sich zweitens von allen Seiten beobachtet.
Sie saßen an einem runden Tisch in einem verhältnismäßig kleinen Zimmer und schauten auf einen Riss im Raum, der ihnen als Fenster zur Erde diente. Es zeigte eine vollkommen verwüstete Landstraße, ein quasi zu Staub zerfallenes Haus und mehrere einsturzgefährdete Gebäude in der Umgebung.
Gabriel seufzte. Er saß Metatron direkt gegenüber, die langen schwarzen Haare fielen ihm teilweise ins Gesicht, die tiefblauen Augen wirkten müde. Letzte Nacht hatte er Wache gehalten und dem Desaster zugesehen. »Das können wir nicht hinnehmen«, sagte er jetzt. »Das Maß an Zerstörung ist zu groß.«
Remiel neben ihm nickte. Sie war nur Minuten vor Metatron hier angekommen. Davor hatte sie wohl wieder eine Horde aufgebrachter Schutzengel mit fast haltlosen Begründungen beruhigen müssen. »Hin und wieder einzelne Menschen zu opfern ist das Eine. Schutzengel müssen ein gewisses Maß an Kollateralschaden hinnehmen. Aber das«, sie nickte knapp in Richtung des Fensters, »das war vermeidbar.«
»Trotzdem ist es essenziell, dass sich die Schutzengel aus dieser Sache heraushalten«, sagte Gabriel.
»Ich weiß.«
»Wenn sich die Hölle so sehr einmischt, können sie nur verlieren.«
»Ich weiß!«, erwiderte Remiel und rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. »Und ich will behaupten, das ist mir von uns allen am meisten bewusst. Genauso, wie dass wir nicht ewig Glück haben können.«
Metatron nickte. Insgeheim hatte niemand damit gerechnet, dass Luzifer es überhaupt so lange in der Hölle aushielt. Sie hatten ihm höchstens ein paar Jahre gegeben und die Sicherheitsmaßnahmen entsprechend auf diese Zeitspanne ausgelegt. Uriel sollte längst zurück im Himmel sein, die Schutzengel beruhigter und die Katastrophe schon passiert.
»Was ich sagen will, ist dass ich nicht viel länger für meine Leute garantieren kann«, fuhr Remiel fort. »Nicht bei der momentanen Lage und der Aussicht, dass die Unruhe länger dauern wird. Es ist nicht richtig, den Schutzengeln dauerhaft zu predigen, dass sie sich gefälligst unter Kontrolle halten sollen.«
Bei dem Wort »richtig« verdrehte Jehudiel kaum merklich die Augen und rückte seine Brille zurecht. Der Richter hatte sich im vergangenen Jahr mehr mit diesem Konzept beschäftigen müssen als ihm lieb gewesen war und mittlerweile gab es kaum etwas, das ihn ähnlich aufregte wie dieses Wort. Wenn Metatron sich das vor Augen führte, war er doch ganz erleichtert, nichts von der Sache mitbekommen zu haben.
Zum Glück nahm ihm Michael die Aufgabe ab, eine Entscheidung für die Erzenge zu treffen. »Wir haben uns geeinigt, Attentäter zu schicken«, erklärte der Heerführer. »Sie sollen sich um die beiden Menschen kümmern. Wenn sie die Erde das nächste Mal betreten, sind sie tot, vorausgesetzt, Luzifer erledigt das nicht für uns.«
Obwohl nur vier der sieben Erzengel hier saßen, fühlte