Sebastian Kalkuhl

Was Menschlich Ist


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zwischen den Baumkronen.

      Dorian landete mit einem leidenden Gesichtsausdruck. Wieder stand er Chris zunächst regungslos gegenüber und überlegte sichtlich, was er sagen sollte. »Er wird wiederkommen. Weg von hier.«

      Sie stiegen erneut in die Luft, Dorian hielt mitten auf die Großstadt zu. Chris warf einen Blick zurück und erschrak, als er feststellte, dass sowohl der Wald als auch die Wiese so verwüstet aussahen, als hätte dort gerade ein Sturm gewütet. Bäume waren entwurzelt und jegliches Laub von den Ästen gerissen worden, die Erde aufgewühlt und das Gras niedergedrückt. Von der Scheune fehlte jede Spur.

      »Ach du Scheiße«, murmelte Chris. Wind und Nebel verschluckten seine Worte. ›Wenn sie das ohne Probleme anrichten können, wie hab ich dann bis hierhin überlebt?‹

      Chris hatte geglaubt, mittlerweile Fliegen gelernt zu haben, doch jetzt kam er Dorian kaum hinterher. Erst wollte er den Engel einfach ziehen lassen und entschied sich im letzten Moment dagegen. »Warte!«

      Dorian bremste und schwebte auf der Stelle, bis Chris zu ihm aufgeschlossen hatte.

      »Ich kann nicht schneller«, erklärte er und bekam wie zur Bestätigung direkt Seitenstechen. »Und… und ich kann auch nicht mehr.«

      »Oh«, machte Dorian, als käme das vollkommen überraschend für ihn. »Ein bisschen weiter noch.«

      »Ich geb mein Bestes.«

      »In der Nähe von Menschen ist es sicherer. Sie wollen nicht auffallen.«

      »Okay. Gut.« Chris atmete tief ein und mobilisierte, was sich wie seine letzten Kräfte anfühlte. Hoffentlich fiel er nicht vom Himmel. »Was genau willst du eigentlich von mir?«

      Dorian schüttelte nur den Kopf.

      13

      Dorian

      10. November

      Erde

      Abgesehen von einem Dach über dem Kopf bot die Bauruine so gut wie keinen Schutz. Der Beton und die Ziegelsteine sahen aus, als wären die Arbeiten schon vor langer Zeit aufgegeben worden, eine Wand war zur Hälfte eingestürzt, und im Garten wuchs das Unkraut unkontrolliert vor sich hin. Wie ein Schandfleck stand das Gebäude am Rande der Siedlung in gebührendem Abstand zu den restlichen Häusern und Dorian wunderte sich, weswegen es noch niemand abgerissen hatte.

      Nachdem sie gelandet waren, hatte er sich mit der Ausrede entschuldigt, etwas Essbares zu suchen. Nicht nur, um Chris und sich wieder auf die Beine zu bekommen, sondern auch, weil Herumschleichen, Auskundschaften und Einbrechen Routine bedeutete. Nur ein gewöhnlicher Auftrag. Völlig an der Realität vorbei.

      Die gewohnten Abläufe beruhigten ihn. Dorian ging einmal um das Haus herum, immer im Schatten verborgen, und spähte durch die Fenster auf der Suche nach Lebenszeichen. Innen fand er keine Menschen, in der Garage kein Auto, dafür allerdings einen Stapel Zeitungen vor der Haustür. Gut.

      Mit einem Flügelschlag überwand Dorian den Gartenzaun, landete auf der anderen Seite und rutschte fast auf den feuchten Terrassenfliesen aus. Er streckte sich, ging vorsichtig zur Tür herüber und trat mit voller Wucht auf die Scheibe ein, sodass sich Scherben in jede Richtung verteilten. Normalerweise legte Dorian Wert darauf, weder Lärm zu machen noch Spuren zu hinterlassen, aber gerade brachte er die Konzentration nicht dafür auf. Und wenn jemand nach ihm suchte, sah das hier nicht nach seiner Methodik aus.

      Der Gedanke stoppte ihn mitten in der Bewegung. ›Ob wohl jemand außer uns nach Chris sucht? Hat er Freunde und Verwandte, die ihn jetzt vermissen? Habe…‹ Allein bei der Überlegung wurde Dorian übel. ›Habe ich Freunde und Verwandte gehabt?‹

      Die Scherben knirschten unter seinen Stiefeln, als er ins Haus trat, bohrten sich aber nicht tief genug in die Sohlen, um ihn zu verletzen. Mit schnellen Schritten ging er durchs Wohnzimmer, fand die Küche und klemmte sich als erstes zwei Wasserflaschen unter den Arm, die einsam auf der Arbeitsplatte standen. Er durchsuchte eine Handvoll Schränke und stieß erst nur auf Töpfe, Pfannen und Geschirr, bevor er den Kühlschrank öffnete. Außer ein paar Früchten nahm er nichts mit, denn den Inhalt der Plastikpackungen und Glasflaschen kannte er nicht.

      ›Isst Chris solche Sachen?‹, dachte Dorian. ›Und wenn ich ihn frage, glaube ich ihm dann?‹

      Beim Hinausgehen entdeckte er im Wohnzimmer eine zusammengefaltete Decke auf dem Sofa liegen und Dorian nahm sie spontan auch noch mit. Der Morgen mochte zwar schon ein paar Stunden alt sein, doch es wollte und wollte nicht wärmer werden und sie hatten wahrscheinlich beide genug gefroren.

      Dorian verließ das Haus durch die Vordertür, hielt einen Moment lang inne und flog schließlich zurück zur Bauruine. Seine Flügel trugen ihn automatisch in die richtige Richtung.

      Der Mensch saß immer noch genau so in dem Raum, wie Dorian ihn zurückgelassen hatte. Durch die harten Schatten und das kalte Licht von draußen sah Chris kreidebleich aus, seine Augenringe wie mit schwarzer Tinte gemalt. Die dunkelbraunen, beinahe kinnlangen Haare fielen ihm strähnig und verschwitzt in die Stirn. Um seinen Hals hing ein silbriger Anhänger, den er mit abwesender Miene zwischen den Fingern drehte. Die Flügel spreizten sich in einem merkwürdigen Winkel von seinem Rücken ab, damit sie den Beton nicht berührten und das Zittern machte nur allzu deutlich, wie anstrengend das sein musste.

      Dorian flog zielsicher durch das Loch in der Wand, landete und zog seine eigenen Flügel ein, ehe er zu Chris herüberging. Der blinzelte daraufhin mehrmals und schüttelte den Kopf. »Wie hast du-«

      »Die Flügel sind zu empfindlich, um sie jederzeit offen zu tragen. Wenn wir nicht fliegen müssen, ziehen wir sie ein.«

      »Wie soll das… Dreh dich mal um.«

      Bei jeder anderen Person hätte Dorian befürchtet, sie wollte ihm in den Rücken fallen, aber hier erschien ihm das Risiko klein genug. Wirklich wohl fühlte er sich trotzdem nicht dabei.

      Eine Weile lang blieb Chris still und begutachtete vermutlich die zwei offenen Wunden auf Dorians Rücken, die sich dort anstelle seiner Flügel befanden. Natürlich waren auch sie empfindlich, aber damit konnte man in der Regel deutlich besser umgehen als mit zwei riesigen gefiederten Gliedmaßen.

      »Wie?«, fragte Chris schließlich noch einmal.

      Dorian zögerte und musste ernsthaft nachdenken, ehe er auf eine Antwort kam. Er hatte nie eine Anleitung gebraucht, als gefallener Engel gehörte er in die Luft. Fliegen fühlte so natürlich an wie Atmen – das hatte Luzifer gesagt. Impliziert.

      Er senkte den Blick. Wenn er wirklich gefallen war, müsste er sich dann nicht daran erinnern können, auch im Himmel geflogen zu sein? Kein konkretes Bild tauchte in seiner Vorstellung auf. Es warf Dorian so sehr aus der Bahn, dass er Chris völlig vergaß, bis der ihm auf die Schulter tippte.

      Dorian fuhr zusammen und ließ die Decke und das Wasser fallen. Die Fragen blieben. Die Erinnerungslücken auch. »Flügel sind Ausdruck und Quelle unserer Macht«, erklärte er hastig. »Ohne Flügel sind wir nicht mehr als Menschen. Ohne sie könnten wir nicht leben.« Schon beim Gedanken daran wurde ihm schlecht. Dämonen machten Witze darüber, Engeln die Flügel auszureißen, wenn sie sich Luzifers Diener zuverlässig vom Leib halten wollten.

      »Ich bin menschlich, auch wenn ich- Egal.« Chris seufzte. »Ich will also drauf aufpassen. Was muss ich machen, um sie, äh, einzuziehen?«

      »Schwer zu erklären.« Weil Dorian sich denken konnte, wie hilfreich diese Antwort war, riss er sich zusammen. »Stell dir vor, du ziehst sie in deinen Körper. Das sollte funktionieren.«

      Chris nickte offenkundig wenig überzeugt, schloss aber die Augen und schien es zu versuchen. Einen Moment später waren die Flügel spurlos verschwunden, woraufhin er sichtlich erleichtert aufatmete.

      Dorian reichte ihm die Decke, eine Flasche Wasser und kramte einen Apfel aus seinen Manteltaschen, ehe er sich ihm gegenüber an den intaktesten Teil der Wand setzte. »Hier.«

      Chris