Sebastian Kalkuhl

Was Menschlich Ist


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Innen gab es keine Wände, nur weißes Licht aus allen Richtungen und eine steinerne Treppe, die schnurgerade nach oben führte. Am Ende wartete angeblich Gott auf einen, und mehrere Engel hatten in der Vergangenheit versucht, ihn zu erreichen. Nach einer Weile ohne Lebenszeichen waren sie alle für tot erklärt worden.

      Metatron und Sandalphon gingen nur ein paar Stufen hinauf und knieten danach simultan nebeneinander nieder. Kaum, dass sie ihre Haltung eingenommen hatten, drängte sich ihnen eine allumfassende, spürbar allmächtige Präsenz auf, lenkte sie unauffällig, und schaute tief in ihre Gedanken.

      Metatron schloss die Augen und konzentrierte sich. Wenn Gott mit ihnen sprach, kostete das Kraft. Unter anderem deswegen blieb der Garten für die Allgemeinheit geschlossen, denn ein gewöhnlicher Engel hielte schon die Präsenz im Turm kaum aus. Die Seraphim kamen vergleichsweise gut mit der Belastung zurecht, aber nach einem stundenlangen Gespräch mit Gott waren auch sie zu nichts mehr zu gebrauchen.

      Einige Sekunden herrschte Stille in Metatrons Kopf. Dann begann er mit seiner eigenen Stimme fremde Worte zu denken.

      »Ihr seid beide hier. Gut.«

      »Was gibt es?«, fragte Metatron. Er sprach laut, damit Sandalphon ihn hören konnte und weil sich das weniger seltsam anfühlte, als die Antwort nur zu denken. Gott schien es ohnehin gleich zu sein.

      »Ihr werdet in zwei Jahren volljährig«, erklärte er. »Ab dann werdet ihr offiziell Seraphim sein, mit allen Rechten und allen Pflichten.«

      Wirklich wohl war Metatron bei dem Gedanken nicht. Zwar behandelte man ihn jetzt schon kaum anders als die anderen Seraphim, aber im Moment wurden ihm Fehler noch nachgesehen. Diese Haltung dürfte sich ändern, sobald er in den Augen der Leute nicht mehr als Kind galt.

      »Ich möchte euch bitten, über etwas nachzudenken. Mit eurer Volljährigkeit werdet ihr nicht nur vollwertige Seraphim, sondern auch meine persönlichen Stellvertreter und Stimme im gesamten Himmel sein. Dadurch werdet ihr mächtiger als alle anderen Engel und uneingeschränkt über ihnen stehen. Ihr werdet für mich mit dem Himmel sprechen. Ihr werdet für mich befehlen. Ihr werdet für mich herrschen. Und ihr dient allein mir.«

      Es war das erste Mal, dass sie das direkt von Gott zu hören bekamen. Metatron schaute zu Sandalphon herüber, der wiederum stur auf die Stufe unter sich schaute und sich sichtlich anspannte. Bei ihm selbst warf es in erster Linie Fragen auf, die er vor lauter Verdrängen beinahe vergessen hatte.

      »Ich vertraue euch genug, um mich von euch vertreten zu lassen«, fuhr Gott fort – das war wohl die Stelle, an der er ihnen den Haken an der Sache nannte. Wenn Metatron eins in seinen beinahe eintausend Jahren gelernt hatte, dann dass es immer einen gab. »Aber ich muss sichergehen, dass ihr mein Wort sprecht und mein Wort allein. Ihr werdet den gesamten Himmel lenken können und das soll nach meinem Willen geschehen. Wenn ihr den Schwur in zwei Jahren leistet und euch an mich bindet, dann werde ich auch dafür sorgen, dass ihr nicht mehr lügen könnt.«

      Sandalphon runzelte die Stirn. »Wir könnten nur noch nach Eurem Willen sprechen.«

      »Ja.«

      So wie sein Bruder aussah, würde Metatron dessen Meinung exakt dann zu hören bekommen, wenn sie diesen Raum verließen und die Steintür hinter ihnen ins Schloss fiel.

      »Ihr müsst das nicht tun«, erklärte Gott. »Ich nehme den Eingriff nur mit eurem Einverständnis vor, denn ein unfreiwilliger Diener nützt mir nichts. Ich bitte euch, in den kommenden Jahren eine Entscheidung zu treffen, ob ihr den Schwur leistet.«

      »Wir müssen das nicht?« Sandalphon klang, als könnte er nicht glauben, was er da gerade hörte. Zugegeben, Metatron konnte ihn verstehen. Der freie Wille eines jeden Engels wurde zwar mit Stolz betont, ging aber zwischen der wesentlich lauteren Forderung nach striktem Gehorsam unter. Den Seraphim ging es da nicht anders als dem Rest des Himmels.

      »Ihr könnt den Schwur leisten oder nicht. Ihr könnt zustimmen oder ablehnen. Was ihr tut, liegt letzten Endes bei euch.«

      »Nun…« Sandalphon schüttelte irritiert den Kopf. »Wenn das so ist, dann denke ich nach. Gibt es noch etwas?«

      »Nein.«

      ›Ja‹, dachte Metatron und gab sich Mühe, es nicht wie eine Aussage klingen zu lassen. Gott war die letzte Person, mit der er dieses Problem diskutieren wollte. ›Warum weiß ich nicht, wie ich Euch ansprechen soll? Warum weiß ich nicht, als was ich Euch bezeichnen und wie ich über Euch reden soll?‹

      Wie erwartet und erhofft bekam er keine Antwort. Stattdessen zog sich Gott ohne ein weiteres Wort aus ihren Köpfen zurück, sodass sie wieder Herren über ihre eigenen Gedanken waren.

      Herren. Das Wort versetzte Metatron einen Stich und er wusste nicht warum. Er versuchte es zu ignorieren und machte das Wort dadurch nur noch präsenter in seinem Kopf, bis es sich von allein wiederholte und als endloses Echo durch seinen Verstand hallte. Er spürte sich kaum die Treppenstufen heruntergehen und Sandalphon nach draußen folgen. Sein Bruder drückte die Tür auf, ließ Metatron als Erstes hinaus und holte dann direkt zu ihm auf.

      »Wie kann er glauben, dass wir das annehmen?«, fragte Sandalphon, laut genug, dass ihn hier theoretisch alle hören könnten. Praktisch waren Michael und Satan unterwegs und da sie Seraphiel nicht im Turm angetroffen hatten, dürfte der sich ausruhen oder schlafen. »Wie kann er glauben, dass wir uns freiwillig an ihn binden? Wir dürften nicht einmal eine eigene Meinung haben, wenn wir-«

      »Das wissen wir nicht«, widersprach Metatron und schob dem Redefluss kurzfristig einen Riegel vor. »Sag mal…«

      »Ja?«

      »Tut mir leid, dass ich dich unterbreche«, sagte er. Am liebsten hätte er das Thema ganz vermieden, aber diese verfluchten Fragen… »Als was siehst du Gott?«

      Sandalphon stutzte. »Wie bitte?«

      Metatron zögerte. Er konnte die Sache kaum beschreiben und musste sich mühsam zu einem Versuch überreden. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er eine vernünftige Formulierung fand. »Alle sprechen Gott so an, wie sie selbst angesprochen werden wollen, richtig?«

      Sandalphon nickte und machte nicht den Eindruck, als würde er verstehen.

      »Geht dir das auch so?«

      »Natürlich. Gott spricht mit meinen Gedanken, ihn anders als mich anzusprechen, fühlt sich falsch an. Wie kommst du überhaupt darauf?«

      ›Ich weiß nicht, als was ich mich bezeichnen soll‹, dachte Metatron und dieser Umstand kam ihm so unfassbar lächerlich vor. Hoffentlich war er einfach nur verschlafen. »Nicht so wichtig«, murmelte er und überließ seinem Bruder wieder das Feld.

      »So einen Schwur kann ich nicht leisten«, sagte Sandalphon. »Und wenn Gott uns die Wahl lässt, muss er damit rechnen, dass ich es lasse.«

      ›Du sagst das so leicht‹, dachte Metatron. ›Du hast ihn doch gehört, wir sind geschaffen worden, um ihn zu vertreten. Was für einen Sinn haben wir denn, wenn nicht den? Du hast ja recht, aber…‹

      Er fühlte sich der Sache hilflos ausgeliefert, jedem noch so freien Willen zum Trotz. Es wäre ihm lieber, jemand anders würde die Entscheidung für ihn treffen und die Angelegenheit damit erledigen.

      Ohne ein weiteres Wort ging Sandalphon zu ihrer Wohnung und ließ Metatron mit sich und seinen Gedanken allein. So viele Fragen. Es kam ihm vor, als müsste er für jede eine Antwort haben, doch er wusste keine einzige.

      10

      Dorian

      3. November

      Hölle

      Als Dorian den Ruf spürte, erfüllte ihn nichts als Erleichterung. Natürlich könnte es seinen sicheren Tod bedeuten, aber selbst für das Bisschen Aufmerksamkeit gäbe er gerade alles.

      Zitternd strich er seinen Mantel glatt, auch wenn das kaum etwas brachte. Die ziellose Wanderschaft der letzten