Janne sah aus, als könnte ihm selbst ein Wörterbuch nicht helfen.
Chris seufzte. »Du hast den in die Luft gejagt?«
Janne nickte heftig und mit stolzgeschwellter Brust. »Höchstselbst!«, erklärte er grinsend. »Hatte nicht mal viel Zeit, das Ganze zu planen, weil alles so schnell gehen musste. Alle Leute haben an mir gezweifelt, weil sie dachten, ich würde das nie im Leben schaffen, aber ich hab’s ihnen gezeigt! Ich weiß, was ich mache.«
Es gab niemanden, dem Chris gerade mit schlechterem Gewissen Sprengstoff anvertrauen würde.
»Und die sind mir trotzdem abgehauen, die verdammten Schutzengel. Hätte ich nur einen von denen erlegt bekommen, wäre es das gewesen und Luzifer wäre jetzt frei, aber nein…«
Chris zwang sich zu einem verständnisvollen Nicken und versuchte dann, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, bis sich Jannes anhaltender Monolog zu einem Hintergrundrauschen entwickelte. Sobald sein Verstand vollständig begriff, was der mehr oder weniger falsche Engel gerade vorhatte, würde er nur in Panik ausbrechen und das half ihm auch nicht weiter. Ein kleines bisschen Dissoziation schadete nicht.
Sie kämpften sich etwa fünf Minuten lang durch das Dickicht und kamen nur langsam voran, weil sie beide auf ihre Flügel aufpassen mussten. Wann immer seine Federn einen Ast oder ein Blatt streiften, fluchte Janne laut auf und trat die Pflanze platt. Am Rande des Wäldchens kam schließlich ein mehrstöckiges Wohnhaus zum Vorschein.
Selbst von weit weg bemerkte Chris die farbenfrohen Dekorationen auf den Balkons und Lichterketten in manchen Fenstern. Hinter zwei oder drei Vorhängen glaubte er, Bewegungen zu erkennen, doch ansonsten war kein Mensch zu sehen. Ein verlassener Spielplatz mit einer einsamen Schaukel befand sich etwas hinter dem Gebäude. Die Umgebung erinnerte Chris an die Stadtteile, in denen seine Freunde gewohnt hatten, und vielleicht hieß das, dass er doch nicht so weit weg von Zuhause war wie befürchtet.
Ihm war nicht nach Reden zumute, aber da Janne früher oder später von alleine wieder damit anfangen würde, wählte er das offensichtlichste Thema. »Was machen wir jetzt?«
»Du machst hier gar nichts«, erwiderte sein Begleiter entrüstet. »Ich erledige das alleine, bevor du mir hier irgendwas versaust. Ich kann das besser als du.«
»Willst du, dass ich warte, oder-«
»Lass. Mich. Machen«, erklärte Janne und machte den Eindruck, als wollte er Chris am liebsten an die Kehle springen.
Er hob beide Hände und ging einen Schritt zurück. »Okay, okay, ich bleib hier.«
»Und bau keine Scheiße.« Janne wandte den Blick ab und ließ Chris zwischen Bäumen und Gebüsch stehen. Der Engel ging zwei Schritte, breitete seine Flügel aus und stieg elegant in die Luft, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Schnell gewann er an Höhe, hielt auf einen der Balkone zu und kletterte mit einer fließenden Bewegung über das Geländer. Danach verschwand er aus Chris’ Blickfeld.
›Ich könnte wegrennen‹, dachte er auf der Stelle. ›Janne ist beschäftigt und wenn er Luzifer wirklich so unbedingt glücklich machen will, kann er mich auch nicht hinterher. Fragt sich nur, wie weit ich komme und ob ich woanders wirklich sicher bin.‹
Hätte Chris gewusst, dass er die Hölle anscheinend einfach so verlassen konnte, hätte er das schon längst versucht, anstatt stundenlang durch unzählige Tunnel zu irren, ohne eine einzige Person zu treffen, und sich zu fragen, wann er vor Durst den Verstand verlor. Hier konnte er immerhin klar denken, sich sammeln und versuchen, sich einen Reim auf alles zu machen.
›Mit den Flügeln kann ich definitiv nicht unter Leute‹, überlegte er weiter. ›Der Rest ist nicht mein größtes Problem, mit dem Mantel und der Haut halten mich die Leute höchstens für ’nen Goth und damit kann ich leben. Aber die verdammten Flügel.‹
In regelmäßigen Abständen dachte Chris darüber nach, sie sich einfach auszureißen. Aber so fremd und falsch sie sich auch anfühlten, er hing gerade genug an ihnen, um es nicht zu versuchen. Ganz abgesehen davon, dass er wahrscheinlich vorher ohnmächtig vor Schmerzen wurde.
›Im Moment kann ich zumindest herausfinden, wo ich eigentlich bin. Straßenschilder, Autokennzeichen, Werbung, irgendwas. Dann weiß ich mehr und kann weitersehen.‹
Zumindest fühlte sich das besser an, als wie angewurzelt hier zu stehen und auf ein unvermeidliches Unheil zu warten. Chris warf noch einen erneuten Blick aufs Wohnhaus, ging dann zurück ins Unterholz und bahnte sich hoffentlich ungesehen einen Weg. Früher oder später würde er wohl auf eine Straße stoßen.
Er kam höchstens drei Meter weit, als es hinter ihm krachte. Einen Moment später hörte er ein gellendes, unkontrolliertes Lachen, ehe ihm ein breit grinsender Janne fast ins Gesicht flog. »Duck dich!«
»Was?«
»Duck dich, hab ich gesagt!«
»Warum-« ›Oh. Oh Gott.‹ Reflexartig zog Chris den Kopf ein und drehte sich gerade noch rechtzeitig vom Haus weg, bevor es in die Luft flog. Der erste Knall war ohrenbetäubend, alle weiteren Geräusche wurden von einem schrillen Fiepen in Chris’ Ohren übertönt. Die Schockwelle erwischte ihn in dem Moment als er zur Überzeugung gelangte, sie irgendwie verpasst zu haben. Er wurde mit dem Gesicht zuerst ins Gras gedrückt, Dreck und Trümmer flogen über ihn hinweg und schlugen zum Teil in die Baumstämme ein. Eine graue Staubschicht legte sich über Kleidung, Haut, Erde und Sonne und kühlte die Luft innerhalb weniger Sekunden um mehrere Grad ab.
Chris verharrte in der Haltung, bis er sich halbwegs sicher war, beim Aufstehen von nichts erschlagen zu werden. Er richtete sich auf, atmete tief ein und musste husten, als sich Staub in seiner Lunge festsetzte. Jeder Atemzug brannte wieder wie in der Hölle, aber immerhin ließ das Fiepen nach.
Während er seinen Körper halbwegs wieder unter Kontrolle bekam, lachte Janne neben ihm immer lauter. »Hast du das gesehen? Hast du gesehen, wie das in die Luft gegangen ist? Jetzt guck doch, verdammt nochmal!« Widerwillig rieb sich Chris die Augen. Vor ihm hüpfte Janne wild auf und ab und deutete auf das Chaos, wo eben noch ein Haus gestanden hatte. »Alles ist kaputt, richtig gut!«
Chris wurde schlecht, während er sich umschaute und nichts außer Trümmer aus Stahl und Beton um sich herum erkannte. Spätestens als Janne vom Bahnhof erzählt hatte, war ihm klar gewesen, wie diese Sache ausgehen würde, aber ein Teil von ihm hatte wider besseren Wissens auf Angeberei gehofft.
»So hab ich sie am liebsten«, fuhr Janne begeistert fort und ließ offen, wen genau er meinte. »Alles ist perfekt, jetzt müssen wir nur noch zurück und Bericht erstatten und dann-«
Er brach ab, als die Luft um ihn auf einmal zu glühen begann. Chris glaubte erst, Janne hätte es einfach nur schrecklich eilig, doch der schaute sich nicht minder verwirrt um, zog die Flügel eng an den Körper, ging mehrere Schritte zurück. Zum ersten Mal stand Unsicherheit auf seinem Gesicht geschrieben.
Das Licht verblasste so schnell, wie es gekommen war und plötzlich stand jemand Drittes zwischen ihnen beiden. Er hatte kastanienbraune, im Nacken zusammengebundene Haare, hellblaue Augen. Dazu trug er einen fliederfarbenen, weiten Pullover und eine Art Jogginghose in der gleichen Farbe, keine Schuhe oder Schmuck, dafür aber gleichermaßen Fassungslosigkeit und unverhohlene Wut im Gesicht. Natürlich hatte auch er seine reinweißen Flügel weit ausgebreitet.
Noch während Chris seinen Augen nicht ganz traute, schaltete Janne bereits von Überraschung zu totalem Hass um. »Du bist einer von denen«, brüllte er und sprang dem Engel ohne Vorwarnung an die Kehle. »Du gehörst zu den gleichen Arschlöchern, die mir abgehauen sind!«
Der Engel wurde nach hinten gerissen, offensichtlich noch bevor er wusste, wie ihm geschah. Chris ging mehrere Schritte rückwärts, um nicht auch noch mitgenommen zu werden, duckte sich. Jemand schrie unverständliche Worte, im selben Moment blitzte es gleißend hell auf. Janne fluchte, gewann Abstand und hielt sich den Arm. Selbst seine Flügelspitzen zitterten vor Wut. »Ihr habt uns alle in die Hölle gestoßen und du holst Luzifer jetzt wieder da raus!«
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