Sebastian Kalkuhl

Was Menschlich Ist


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Engel musste sehen können, wie sehr Dorian die Bilder zu vergessen versuchte – und wie die Zweifel mit jedem Versuch wuchsen.

      »Es ist alles gut«, sagte Luzifer, sowohl mit seiner eigenen Stimme als auch in Dorians Kopf. »Ich vertraue dir noch.«

      Dorian nickte. Tränen strömten ihm übers Gesicht, aber gerade gab es nur seiner Erleichterung Ausdruck. Er war noch zu etwas gut.

      »Das nächste Mal wirst du nicht gesehen«, fuhr sein Meister fort. »Das nächste Mal befreist du mich.«

      »Natürlich.« Er würde alles daran setzen. Vor allem würde ihn nie wieder ein Mensch zu Gesicht bekommen und die Begegnung überleben. Nicht noch einmal Flügel, nicht noch einmal rote Engelsaugen, wo keine sein sollten. Wo nie welche gewesen waren. Dorian hatte nichts gesehen.

      »Ich vertraue dir noch«, wiederholte Luzifer und ließ Dorian endlich fallen. Schluchzend brach er in sich zusammen und hielt sich den Kopf, weil sich seine gesamte Psyche wie seziert anfühlte. Außer einem heiseren »Danke« brachte er keine verständlichen Worte mehr heraus.

      Luzifer wandte sich um und ließ ihn buchstäblich links liegen. Hinter dem Licht und unter dem perfekten Glimmer zitterten seine Knie. Was auch immer er getan hatte, es musste unvorstellbar viel Kraft gekostet haben. Undenkbar, dass ein Mensch das länger als ein paar Sekunden überlebt haben sollte. Unmöglich, dass die Erinnerung, die unablässig durch Dorians Kopf spukte, tatsächlich stimmte.

      ›Was ist, wenn doch?‹, flüsterte eine leise Stimme in Dorians Gedanken, von der er nicht wollte, dass sie es besser wusste. ›Was ist, wenn du deinen Augen trauen kannst?‹

      »Ich habe nichts gesehen«, murmelte er und biss sich fast auf die Zunge. »Ich habe nie etwas gesehen. Das ist alles nicht passiert.«

      Dorian hatte an der Hoffnung festgehalten, dass sich alles von allein wieder gerade rückte und sein Meister alle Fragen und Zweifel wenn nötig aus ihm herausfolterte. Doch stattdessen wuchs ihm das Gefühl, dass etwas mit der Welt nicht stimmte, stetig weiter über den Kopf.

      6

      Chris

      2. November

      Hölle

      Noch mal.« Chris hatte schon die letzten drei Male nicht fragen wollen, aber die Hoffnung, dass er sich die ganze Zeit verhörte, ließ sich einfach nicht totkriegen. »Luzifer will, dass wir bitte was machen?«

      Der Engel ihm gegenüber seufzte laut und schlug mit so einer Wucht in die Wand neben sich, dass Staub von der Decke rieselte. Vor etwa einer halben Stunde hatte er Chris in einem der endlos langen Tunnel ausfindig gemacht und sich grummelnd als Janne vorgestellt. Seitdem erreichte seine Laune stetig neue Tiefpunkte und Chris ging mittlerweile davon aus, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben.

      »Wie oft muss ich dir das noch erklären?«, unterbrach sein selbst erklärter Partner den Gedankengang. Er war kleiner und schmaler als Chris, was an sich schon eine Leistung darstellte, hatte ebenso blutrote Augen wie Luzifer persönlich und wirre, schokoladenbraune Haare. Insgesamt sah er nicht älter aus als achtzehn und verhielt sich entsprechend. »Wir gehen auf die Erde, und du baust keine Scheiße, weil ich schon genug Ärger hab. Was verstehst du daran nicht?«

      »Warum müssen wir Menschen töten?« Chris konnte kaum glauben, diesen Satz laut zu sagen und ernst zu meinen. Immerhin kam ihm die Sache so unwirklich vor, dass ihm die restlichen Umstände beinahe nichts mehr ausmachten – inklusive die Erkenntnis, was für ein Schicksal seinen Vater ereilt haben musste. »Was für einen Sinn soll das-«

      »Ist egal!«, erwiderte Janne und schlug noch einmal auf die Wand ein. Ein beeindruckender Riss bildete sich an der Stelle. »Luzifer will, dass wir das machen, also machen wir es. Fertig.«

      »Okay.« Chris wusste nicht, was für eine Antwort er erwartet hatte, aber die hier enttäuschte ihn trotzdem. »Sag mal, wenn du ›Wir‹ sagst, wie viele von euch gibt es eigentlich?«

      Janne zuckte mit den Schultern. Da er weder dem Tunnel noch Chris weitere Gewalt antat, schien das Thema wohl weniger sensibel zu sein. »Keine Ahnung, fünfzehn oder so? Manchmal werden welche umgebracht. Manchmal holt Luzifer neue zurück.«

      ›Heißt das, alle seine Diener sind menschlich?‹ Es kam Chris so unfassbar absurd vor. Wenn der Engel mit all seiner Macht von allein nicht aus der Hölle kam, wie um alles in der Welt sollten ihm dann ausgerechnet Menschen dabei helfen? Und, das war wohl die größere Frage, warum schienen sie das auch noch bereitwillig zu tun?

      »Noch was?«

      »Kennst du einen bestimmten, äh, Kollegen von dir? Etwas größer als ich, blond, sagt kein Wort?«

      »Ah«, machte Janne. »Dorian. Ganz ehrlich? Seltsamer Kerl. Der ist ständig alleine unterwegs und wenn ihn mal jemand zu Gesicht bekommt, dann redet er mit keinem.«

      Chris nickte. Ein Name machte alles etwas greifbarer. Eine konkrete Person hatte ihn entführt und einem schier endlosen Albtraum zum Fraß vorgeworfen, und eben keine Erscheinung, die sich Chris vor lauter Verwirrung zusammengereimt hatte.

      ›Ob Dorian wohl wirklich bewusst gewesen ist, was er da anstellt? Zumindest Janne scheint ja zu glauben, was Luzifer ihm erzählt hat.‹

      »Können wir jetzt endlich los?«, riss ihn Janne schon wieder aus den Gedanken, noch ehe er schlau daraus werden konnte.

      »Äh. Ja. Sicher.«

      »Bisschen motivierter, wenn’s geht«, erwiderte er und packte Chris an der Schulter. Instinktiv wollte er sich losreißen, doch bevor er nennenswert weit kam, leuchtete es plötzlich um sie herum auf. Chris verlor das Gleichgewicht im Glauben, der Boden würde unter seinen Füßen weggerissen und ausgetauscht werden. Die Luft kühlte ab, die inhärente Feindseligkeit in der Atmosphäre verschwand, und innerhalb eines Augenblicks kam ihm die Hölle nur noch wie eine entfernte Erinnerung vor.

      Über Chris befand sich ein weiter, blauer Himmel, den eine Handvoll Schleierwolken zierte. Um ihn herum wuchsen Bäume, die noch tapfer dem Winter trotzten und deren Blätter von honiggelb bis tiefrot in allen Schattierungen leuchteten. Am Boden wuchs sattgrünes Gras, im Dickicht dunklere Büsche.

      Chris war nie jemand gewesen, der sich gerne draußen aufhielt und gerade bereute er, die simple Schönheit seiner Umgebung früher nie als solche erkannt und in irgendeiner Form wertgeschätzt zu haben. Das hier musste die Erde sein oder ein Traum im Traum. Mit beidem käme er gerade gut zurecht.

      ›Ob ich von hier nach Hause finde?‹ Er schaute sich noch einmal um. Außer der Pflanzen gab ihm nichts konkrete Hinweise darauf, wo er genau gelandet war, und er kannte sich zu wenig mit Geographie oder Biologie aus, um daraus Schlüsse zu ziehen. ›Ich könnte genauso gut am anderen Ende der Welt gelandet sein. Das wäre dann wohl nur beinahe das Unmöglichste, was mir je passiert ist.‹

      Jemand stieß ihn von der Seite an. Chris fuhr zusammen und beherrschte sich gerade gut genug, um nicht nach Janne zu schlagen, der wie die personifizierte Ungeduld neben ihm stand. »Hör auf zu starren und komm. Ich will die Sache hier gut machen.«

      Chris hob eine Augenbraue. »Was genau hast du vorher angestellt?«

      »Du hast ja keine Ahnung«, murmelte Janne mit geröteten Wangen. »Ich hab den scheiß Bahnhof in die Luft gejagt und man müsste meinen, dass das reicht, aber die Schutzengel sind trotzdem abgehauen. Ich hätte das hingekriegt, aber nein, die werden mir direkt vor der Nase weggeschnappt und ich steh mit leeren Händen da. Und dann darf ich das Luzifer beibringen. Der hätte mich fast umgebracht! Das hier muss ich jetzt hinkriegen, und wehe, du versaust mir das.«

      »Warte.« Da war es wieder. »Nochmal von vorne.«

      Janne seufzte und trat gegen einen Baumstamm. Es knackte, aber ansonsten passierte zum Glück nichts. »Du bist wirklich nicht der Hellste, was?«

      ›Nein, damit ist jetzt nur meine allerletzte Hoffnung gestorben, dass das alles ein schlechter Scherz